Ecken ab
Bei Eckbällen droht stets grosse Torgefahr – sagt zumindest unser Empfinden. Die Zahlen sprechen indes eine ganz andere Sprache.
Ein Artikel aus ZWÖLF #104 (September/Oktober 2024)
Text: Mämä Sykora
Basel – Lugano Ende Juli 2024: Das Heimteam rennt im Joggeli seit der 8. Minute einem Rückstand hinterher. Vor der Pause kann der FCB endlich einmal etwas Druck aufbauen. Einen Angriff können die Tessiner nur zu einem Eckball klären. Léo Leroy macht sich auf den Weg Richtung Eckfahne, doch Schiedsrichter Lukas Fähndrich pfeift die Halbzeit ab. Der Corner wird nicht mehr ausgeführt. Die Basler verwerfen die Hände, die Fans pfeifen. Die Aufregung verebbt schnell. Denn tief drinnen wissen die Leute auf den Rängen vermutlich genau: Die Ecke hätte sowieso nichts eingebracht.
Zeigt der Linienrichter auf den Viertelkreis, beginnt in Stadien weltweit das ewig gleiche Ritual. Der Zuckerfuss schlendert Richtung Eckfahne, derweil trotten die langen Recken aus der Verteidigung nach vorne. Sie werden im Strafraum von ihren Contreparts in Empfang genommen, zusammen starten sie einen skurrilen Tanz. Textilien werden einer Belastungsprobe unterzogen, es wird geschoben, gezupft, gesperrt. Als würden erwachsene Menschen Reise nach Jerusalem spielen, wobei dem Gewinner eine Weltreise winkt. Dann geht der Arm des Zuckerfusses nach oben, manchmal auch beide Arme, und das Publikum hält die Luft an.
Die Gefühlslagen der Fans könnten dabei unterschiedlicher nicht sein. Anhänger der verteidigenden Mannschaft bibbern. Sie sind sich fast sicher, dass der hünenhafte Stürmer seinen Bewacher im Sprungduell schlägt und es nur noch Sekunden dauert, bis der Ball im Kasten einschlägt. Der Puls der gegnerischen Fans hingegen beruhigt sich nach der anfänglichen Freude über die Chance schnell wieder. Zu oft haben sie gesehen, wie ihrem Zuckerfuss die Hereingabe jämmerlich misslingt, der Ball halbhoch auf den ersten Pfosten segelt, wo er mühelos geklärt werden kann. Es ist ein Phänomen, das jeder Fussballfan kennt: Eckbälle der Gegner versprühen riesige Gefahr, die eigenen sind die Aufregung nicht wert.
Trainer und Experten wiederholen gebetsmühlenartig, dass Standards im modernen Fussball immer wichtiger werden. Und weil nun einmal Tore das mit Abstand Wichtigste in einer Partie sind, möchte man meinen, dass der Anteil an Treffern nach Eckbällen seit Jahren zunimmt. Die Zahlen sprechen eine andere Sprache.
GC musste sich einige Häme anhören, als es im Barrage-Heimspiel gegen Thun den Ball stolze 19 Mal von der Fahne in den Strafraum jagen durfte – ohne irgendeinen Ertrag. Diese Flut an Cornern war aussergewöhnlich, ihre Ausbeute indes überhaupt nicht. Der FC Luzern durfte in der letzten Saison sagenhafte 213 Eckbälle treten – und war nur einmal erfolgreich. Der schlechteste Wert der Liga. In den vergangenen drei Spielzeiten der Super League führte nur jeder 31. Eckball zu einem Tor (siehe Tabelle). Im Schnitt tritt ein Team fünf Corner pro Spiel, es braucht also statistisch gesehen mehr als sechs Partien, bis so mal ein Treffer fällt. Viel ist das nicht.
Selbst in mit Stars gespickten Ligen zeigt sich die Situation ähnlich. José Mourinho sagte einst: «Es gibt nur ein Land, in dem bei einem Eckball gejubelt wird wie bei einem Tor: England.» Ältere Semester mögen sich an den irischen Flügel Damien Duff erinnern, dessen Offensivrepertoire daraus bestand, die Linie entlangzuflitzen und auf der Grundlinie zu versuchen, dem Verteidiger ans Bein zu schiessen und so einen Eckball rauszuholen, um danach die Fans aufzufordern, Lärm zu machen. Chelsea mag zu Duffs Blütezeit mit Didier Drogba einen der besten Kopfballspieler in seinen Reihen gehabt haben, erfolgreicher als GC gegen Thun waren die Londoner damals dennoch nicht bei Ecken. Auch heute finden sich in der Premier League mit Erling Haaland, Virgil van Dijk oder Fabian Schär viele Spieler mit Vorteilen in der Luft. Die Erfolgsquote ist dennoch nicht höher: Wie hierzulande fällt rund jedes zehnte Tor nach einem Corner.
Empfindungen schlagen Fakten
Dass Eckbälle dennoch für eine hervorragende Tormöglichkeit gehalten werden, hat mit dem zu tun, was in der Sozialpsychologie Kognitive Dissonanz genannt wird. Vereinfacht gesagt: Wir tendieren dazu, Fakten zu ignorieren, weil wir uns an emotionalen Ereignissen orientieren, die unser Empfinden stützen. Auf den Fussball umgemünzt, bedeutet dies: Man kann uns noch so viele Statistiken über die relative Ungefährlichkeit von Eckstössen unter die Nase reiben, wenn das nächste Mal der gegnerische Zuckerfuss Anlauf holt, sehen wir das Unheil schon kommen. Dann erinnern wir uns an eines dieser wenigen Male, wo unser Team durch einen Corner versenkt wurde, von Jiŕi Koubsky, Alain Nef, Tomislav Puljić oder von wem auch immer.
Viel investierten Klubs allerorts in jüngeren Jahren in ihre Standards. Einige Trainerteams wurden um entsprechende Spezialisten ergänzt. So etwa die deutsche Nationalmannschaft, die sich seit 2021 von Mads Buttgereit in Sachen Standards beraten lässt, der selbiges zuvor für Dänemark tat. An der letzten EM erzielte Deutschland elf Tore, kein einziges nach einem Frei- oder einem Eckstoss, nur gegen Ungarn kam einmal so etwas wie Gefahr auf.
Trotz dem gesteigerten Effort in Sachen Standardsituationen und all diesen Spezialisten hat sich die Erfolgsquote bei Eckbällen kaum verändert in den letzten zwei Dekaden. Und es wird nicht nur selten gejubelt, zwei von drei Cornern werden sogar abgewehrt, ohne dass es überhaupt zu einem Abschluss kommt. Viel Aufwand für nichts also? «Man trainiert eben nicht nur die Offensive, sondern auch die Verteidigung», wirft Alessandro Mangiarratti ein. Seit bald einem Jahr ist er Trainer von Yverdon, sein Team war letzte Saison das mit Abstand erfolgreichste bei Eckbällen. Ein Viertel aller Tore kam so zustande.
Mangiarratti wehrt sich dagegen, wegen dieser Zahlen als Experte für Standards zu gelten. Den Grund für die vielen Tore sieht er vor allem in der Qualität der Schützen. Er habe das Glück gehabt, in der letzten Saison eine grosse Auswahl von Links- wie Rechtsfüssern zur Verfügung gehabt zu haben, wodurch stets ein Geeigneter auf dem Platz stand. Einer von ihnen war der Brasilianer Liziero, dem jenes Kunststück gelang, das Xherdan Shaqiri im EM-Viertelfinal gegen England knapp verwehrt blieb: Er verwandelte gegen Stade Lausanne-Ouchy einen Corner direkt. Ein Kunstschütze allein, der es schafft, das Leder punktgenau und scharf in die Box zu schiessen, genügt freilich noch nicht, wenn dort keine kopfballstarken Abnehmer sind. Dieses Zusammenspiel erst macht einen Eckball brisant. So erklärt Mangiarratti auch die grossen Schwankungen je nach Saison: Ein für seine Standards gefürchtetes Team kann plötzlich harmlos werden, wenn der designierte Ausführer oder der baumlange Defensivmann abwandert.
In seiner Aktivzeit war Mangiarratti Innenverteidiger, hauptsächlich bei Bellinzona und Wil. Er erlebte Trainer, die manchmal eine Stunde lang Ecken treten liessen. Für die Spieler repetitiv und langweilig. Heute verfolge man einen anderen Ansatz. Er und sein Team legen nach vorgängigem Videostudium des nächsten Gegners ihre Varianten fest und lassen ihre Spieler diese dann ein bis zwei Mal pro Woche in kurzen Lektionen einüben. Wer sich fragt, warum trotz der geringen Erfolgsaussicht weiterhin einfach ideenlos der Ball zur Mitte geflankt wird, für den hat der Tessiner eine Antwort: «Wenn du mit vielen Varianten operierst, mag das für den Gegner schwieriger sein – aber auch für das eigene Team.» In einer Partie seien Spieler oft unruhig, da seien komplexe Abläufe hinderlich. Lieber hat er eine kleine Auswahl an simpleren Möglichkeiten, die dafür alle verinnerlicht haben. In einem Trainerkurs sei sogar empfohlen, lediglich eine einzige Variante im Repertoire zu haben. Schliesslich unterscheiden sich selbst dann die Ausführungen stets ein wenig, weil der Ball nie an die genau gleiche Stelle fliege, weil sich die Abwehr immer anders aufstelle und Laufwege sich änderten.
Der VAR sorgt für Ecken-Tore
Hier und da gibt es doch noch innovative Eckballvarianten zu sehen. 2007 steht Mladen Petric für die Ausführung bereit. Dann winkt er seinen FCB-Teamkollegen Ivan Rakitic heran, stupst zuvor aber noch den Ball an, was die Grasshoppers nicht mitschneiden. Rakitic sprintet mit dem Leder sofort auf das Tor der verwirrten Gegner zu und verzieht nur knapp. Ähnliches führt Liverpool 2019 im Champions-League-Halbfinal gegen Barcelona vor, als Trent Alexander-Arnold vom ruhenden Ball wegläuft, dann plötzlich umkehrt und schnell Divock Origi bedient, der in der Mitte vollendet.
In jüngster Zeit ist die Erfolgsquote von Cornern weltweit ganz leicht angestiegen. Das hat für Alessandro Mangiarratti nicht zwingend mit den aufwendigeren Analysen zu tun, sondern mit der Einführung des VAR. Rolf Bollmann, Raubein des FC Winterthur in den 70er-Jahren, gestand nach seiner Karriere seine Taktik beim Verteidigen von Ecken: «Ellenbogen ausfahren, Hodenklemmen, mit einer Stecknadel in den Hintern stechen, grausame Sachen.» Heute ist dies alles nicht mehr möglich. Selbst bei Zupfen oder Klammern kann der Videoschiri schnell einen Elfmeter verhängen. «Wenn eine Ecke scharf kommt und ein 1,90-Mann heranbraust, ist es schwierig, diesen am Abschluss zu hindern», so Mangiarratti. Als Beispiel nennt er Lausannes Belgier Noë Dussenne und FCZ-Recke Nikola Katić. «Selbst wenn man genau weiss, wo der Ball hinkommt, kann man schwer verhindern, dass sie ihn erreichen.» Womit wir wieder bei der Kognitiven Dissonanz wären: Katić hat in über 70 Spielen für die Zürcher vier Mal nach einem Eckball eingenickt. Dussenne für Lausanne noch überhaupt nie.
Der Forscher Michael Caley untersuchte 2015 rund 20 000 Eckbälle in der Premier League, der Bundesliga und der Primera División. Er kam zum Schluss, dass ein Corner 0,035 Toren entspreche. José Mourinhos Unverständnis über das Verhalten des englischen Publikums ist also berechtigt. Wer bejubelt schon ein Neunundzwanzigstel Tore? Caleys Analyse ergab auch, dass von jenen Eckbällen, die keinen Abschluss zur Folge hatten, jeder siebte Kontermöglichkeiten ergab, die angesichts der entblössten Hintermannschaft wesentlich öfter zu einem Treffer führten als Gegenstösse im laufenden Spiel. Auf zehn Eckball-Tore kommt ein Eckball-Gegentor.
Wäre es also nicht gescheiter, eine kurze Ecke auszuführen, um so mindestens in Ballbesitz zu bleiben? Die Spanier zelebrierten dies geradezu in der Zeit, in der sie ohne Stürmer antraten und Weltmeister wurden. Andere Trainer übernahmen diese Herangehensweise, wohl nach einem Blick auf die wenig berauschenden Statistiken ihres Teams. Mit dem Effekt, dass die Fans laut murrten, weil ihr Team freiwillig auf eine angeblich prächtige Torgelegenheit verzichtet. Seither fliegen die Bälle fast überall wieder in den Strafraum. Hundert Mal, ohne dass etwas passiert. Aber hat nicht damals Philippe Senderos gegen Südkorea mit Blut an der Stirn eingenickt? Hat nicht Dani Carvajal im letzten Champions-League-Final für Real so getroffen? Die Kognitive Dissonanz schlägt nun mal jede Vernunft. Und was wäre der Fussball für ein trauriges Spiel, wenn immer alles vernünftig sein müsste.
Eckball-Statistik Super League 2021/22 bis 2023/24
Klub | Anteil Cornertore* | Ecken für ein Tor |
Yverdon-Sport | 24,0 % | 14,3 |
Grasshopper-Club | 17,9 % | 19,7 |
FC Zürich | 11,0 % | 27,8 |
Stade Lausanne-Ouchy | 15,0 % | 28,2 |
FC Basel | 11,4 % | 28,6 |
BSC Young Boys | 10,1 % | 30,2 |
FC Sion | 10,3 % | 31,4 % |
FC St.Gallen | 10,8 % | 31,5 |
FC Lugano | 8,0 % | 33,4 |
FC Luzern | 9,2 % | 44,1 |
Servette FC | 8,6 % | 44,5 |
Lausanne-Sport FC | 8,2 % | 48,0 |
FC Winterthur | 6,5 % | 50,5 |
* Tore, die innerhalb von 14 Sekunden nach dem Eckball fallen (Quelle: Wyscout)