Rollentausch

Was in Zürich passierte, ist europaweit einmalig. Ein Verein, der ein Jahrhundert lang die nationale Fussballgeschichte dominiert hatte, geriet gegenüber dem Stadtrivalen massiv ins Hintertreffen – sportlich und in Sachen Popularität. Wir ­zeichnen die grosse Wende in Form von sieben wegweisenden Ereignissen nach – und wagen einen Ausblick.

Ein Artikel aus ZWÖLF #105 (November/Dezember 2024)

Text: Mämä Sykora

1998:

FCZ zurück in Europa



Im Dezember 1995 empfangen die Grass­hoppers in der Champions League Real Madrid, der Hardturm ist ausverkauft. Die besten Spieler des Landes laufen in Blau-Weiss auf, der Nachwuchs ist der Konkurrenz um Meilen voraus. Auf den Bolzplätzen der Stadt, in der Region sowieso, tragen Kinder GC-Trikots und feiern die unzähligen Trophäen. Ennet der Gleise bietet sich eine völlig andere Welt. Drei Tage vor dem Real-Spiel verliert der FC Zürich zu Hause gegen Lugano vor 1900 Zuschauern 1:2 und fällt – einmal mehr – in die Abstiegsrunde. Der Klub durchschreitet ein lang anhaltendes Tief, inklusive Taucher in die Nationalliga B. Seit dem Wiederaufstieg 1990 kämpft er praktisch pausenlos gegen den erneuten Fall. Verblieben sind ihm nur wenige Fans, die in der Stadt kaum sichtbar sind. 

Als Raimondo Ponte, eine GC-Legende, im April 1994 als Trainer übernimmt, sucht er nach Verstärkungen, die mit dem bescheidenen Budget zu stemmen sind. Er wird unter anderem beim FC Muri fündig, für den der damals 20-jährige Robert Huber verteidigt. Huber erinnert sich: «Ponte lud mich zu einem Spiel in den Letzi­grund ein. Es regnete, im Stadion waren 1000 Zuschauer, und Kriens gewann 5:1. Es war einfach nur trist.» Die Ehrfurcht vor dem Stadtrivalen sei gross gewesen, sagt Huber. «Zu den GC-Spielern haben wir aufgeschaut. Sie strahlten eine Selbst­sicherheit und teils auch Arroganz aus, sie waren nun mal einfach deutlich besser.» 

Doch auf dem kargen FCZ-Boden beginnt langsam etwas zu spriessen. Ponte entdeckt Shabani Nonda im Kongo, David Opango in einem Asylzentrum in der West­schweiz, holt Ike Shorumnu von der FCB-Ersatzbank sowie den vereinslosen César Sant’Anna. Der Fussball im Letzigrund wird bald besser. Und dann spielt – nicht zum letzten Mal in dieser Geschichte – der Zufall eine Rolle: Im Cupfinal Lausanne – St. Gallen 1998 hält Ex-GC-Goalie Martin Brunner für die Romands den letzten Penalty von Patrick Bühlmann. Weil sie als Meisterschaftsdritte bereits für den Europacup qualifiziert sind, geht der Platz an den nächstklassierten FC Zürich. Der spielt damit zum ersten Mal seit 15 Jahren wieder international. Eine Kampagne, die prägen sollte.

Die ersten Signale der Wiederauf­erstehung erlebt Redl Wehrli mit. Er ge­hörte mit den Primitive Lyrics einst zu den Zürcher Hip-Hop-Pionieren und ist in der Graffitiszene unterwegs. Mit der Clique Hallygally, einer bunten Mischung aus Skatern, Kreativen, Studenten und Selbstständigen, steht er im «Züri-Egge» hinter dem Tor, wo es noch reichlich Platz gibt. «Wenn man jemandem sagte, dass man an den FCZ-Match gehe, stiess man nur auf Unverständnis», erinnert sich Wehrli. «Wir nahmen es mit viel Selbstironie. Das war nötig, denn sportlich war es wahrlich bescheiden.»

Auch andere Gruppierungen wie die «Boys» oder die «Locoz» – hauptsächlich Secondos, inspiriert von der Fankultur aus der Heimat ihrer Eltern – sind vor Ort. Sie rücken zusammen, versammeln sich hinter dem neuen «Südkurve»-­Banner. Man habe viel Raum vorgefunden, etwas beizutragen, sagt Wehrli. Mal einen Gesang anzustimmen, eine Choreo zu basteln. Die Kreativen aus den verschiedenen Szenen locken bald mehr Leute an. Als der FCZ in den Europa­cup rutscht, klettert der Zuschauerschnitt auf 8100 – mehr als doppelt so viel wie zwei Saisons zuvor. «Der FCZ ist wieder in», titelt der «Sport» und zitiert ­einen Verkäufer vom Fussballcorner Oechslin: «Vor fünf Jahren war das Verhältnis verkaufter Souvenirs 80:20 zugunsten von GC. Heute ist es fast ausgeglichen.» Mehrere Berichte widmen sich dem Aufschwung des Underdogs, dessen Pressechef Guido Tognoni sich im «Facts» angriffig zeigt: «Eine Trendwende ist möglich. Die Stadt wartet doch nur auf einen starken FCZ.»

«Die AS Roma lag im Koma»: Die UEFA-Cup-Saison 1998/99 steht für die Wiederauferstehung des FCZ.
«Die AS Roma lag im Koma»: Die UEFA-Cup-Saison 1998/99 steht für die Wiederauferstehung des FCZ. (Bild: Keystone)

«Anorthosis, Schachtjor Donezk, Celtic Glasgow schlugen wir – die AS Roma lag im Koma, nur die Mafia, die half ihr!» Noch heute singen die FCZ-Fans diese Zeilen zur Melodie von «Oh My Darling, Clementine», die an den Hype im Herbst 1998 erinnern. Celtic wird im Letzigrund 4:2 weggefegt, Verteidiger Robert Huber ­erhält plötzlich Anrufe von Bekannten, die gegen die im Achtelfinal auch dabei sein wollten. Die Roma braucht die Einlagen Francesco Tottis – ein geschundener Elfer sowie ein Freistoss nach theatralischem Fall im Zweikampf mit Huber – und den FCZ zu stoppen. In der Liga ­gewinnt er in dieser Saison zudem zwei Mal das Derby, hat bis zum zweitletzten Spieltag gar Chancen auf den Meistertitel und qualifiziert sich erneut für Europa. 

Der Aufschwung sei indirekt auch dem Bosman-Urteil zu verdanken, sagt Robert Huber. «Die zusätzlichen Ausländer wie Francisco Lima und Shaun Bartlett haben eine neue Mentalität in den Klub gebracht.» Bis dahin habe niemand etwas vom FCZ erwartet, nicht einmal die eigenen Spieler. Die Legionäre hätten für ein anderes Selbstverständnis gesorgt. Und für die Qualität, um in der Liga endlich wieder eine Rolle zu spielen.

Für Redl Wehrli war diese Zeit auch darum prägend, weil der FCZ seinen Status als familiär geführter Verein festigte. Präsident Sven Hotz als liebenswerter Patron, Trainer Raimondo Ponte, der sich väterlich um die Ausländer im Team kümmert. «Das war sympathisch, damit konnte man sich identifizieren.» Der Funke jedenfalls war gelegt.

1999:

CS-Millionen für GC

Das Erstarken des Stadtrivalen beunruhigt bei GC kaum jemanden. 1998 läuft der Klub dank Spielern wie Kubilay Türkyilmaz, Mats Gren oder Johann Vogel mit einem Rekordvorsprung  von 16 Zählern (trotz Punktehalbierung vor der Finalrunde) als Meister ein. Im Nachwuchs ist er sowieso die klare Nummer eins. Roland Schwegler, der 1997 dazustiess, erinnert sich: «Der Anspruch, an der Spitze zu stehen, war stets zu spüren.» Schon von der U16 habe Manager Erich Vogel verlangt, sie dürfe keinen Match verlieren. Ende jeder Saison hatten sie alle in seinem Büro anzutreten, bleiben durften nur die Besten. «Der Druck war gross, aber das stärkte. Man lernt, der Gejagte, der Verhasste zu sein und damit umzugehen.» Zudem habe Vogel für jeden eine Vision gehabt und plante weit voraus, wen er wann verkaufen würde und wer sein Ersatz sein sollte.

Auch in anderen Bereichen ist GC der Konkurrenz weit voraus. Fredy Bickel, der in den 90ern nacheinander Pressechef, Sekretär, Buchhalter und schliesslich Technischer Koordinator war, erinnert sich: «Eine tragende Rolle spielte der zahlungskräftige Donnerstag-Club. Diese einflussreichen Gönner brachten auch öfters Prominente und Klublegenden mit an den Match. GC hatte eine Ausstrahlung, die über den Fussball hinausging. Ein Credo war, dass der Klub jeden Tag in der Zeitung stehen solle – am besten nicht im Sportteil.» Selbst im Marketing ist GC führend. Für die Businessklientel fertigt er trendige und begehrte Krawatten an, für die Normalsterblichen ist der Fanshop im Hardturm täglich geöffnet – einzigartig hierzulande.

«Doch es gab immer mehr Grabenkämpfe», erzählt Bickel. Mehr oder weniger in Eigenregie ersetzt Erich Vogel 1999 Trainer Rolf Fringer, der Vorstand will daraufhin Vogel absetzen, worauf Geldgeber Heinz Spross droht, den Geldhahn zuzudrehen. Es kommt schliesslich zum grossen Umbruch: Präsident Roma­no Spadaro tritt ab, eine Investorengruppe um Rainer E. Gut (Credit Suisse) und Fritz Gerber (Roche) übernimmt. Und krempelt den Klub komplett um. Vogel, Bickel und fast der gesamte Vorstand werden raus­geschmissen. Die Umwälzungen sind auf allen Ebenen spürbar. 

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Credit-Suisse-Präsident Rainer E. Gut (r.) und Roche-Verwaltungsrat Fritz Gerber (l.), hier mit ihren Ehefrauen im Hardturm, erkauften sich mit schwindelerregenden Summen die bis heute letzten Meistertitel von GC. (Bild: DUKAS/Bruno Voser)

«Mit diesem radikalen Schnitt wurde einiges zerstört. Die neue Führung setzte viele externe Leute ein, die nicht mit dem Fussball vertraut waren», sagt Fredy ­Bickel. Ebenso fatal: Der Donnerstag-Club büsst viel von seiner Bedeutung ein, auf sein Geld sind die schwer­reichen neuen Eigentümer nicht länger angewiesen. Viele Gönner verlieren daraufhin das Interesse, der Klub damit einen Teil seiner Strahlkraft. «Im Rahmen dieser Pseudoprofessionalisierung hat der Klub viele langjährige Mitarbeiter verscheucht, welche die Vereinskultur geprägt und getragen hatten», sagt Silvan Keller, Mitherausgeber der kürzlich erschienenen GC-Chronik und Präsident der GC-Fussballsektion, welche sich um die Bereiche abseits des Profibereichs kümmert. Er steht damals schon in der Kurve und schneidet den Wandel am Rande mit.

Gegen GC spricht auch der Zeitgeist. Für die Mächtigen in der Stadt ist es bald nicht länger zwingend, sich im Donnerstag-Club zu engagieren. Im Zuge der Globalisierung wird GC als Netzwerk und Marktplatz für bürgerliche Wirtschaftskapitäne mit der Zeit obsolet. Hiesige Banken und Versicherungen engagieren Manager aus aller Welt, die ihre Geschäfte nicht in der Hardturm-Loge aufgleisen müssen.

Und auch auf den Strassen haben sich die Zeiten geändert. In den 80er-Jahren galten noch beruflicher Erfolg, Ehr­geiz und entsprechendes Auftreten selbst unter jungen Erwachsenen als cool, die Film­figur Gordon Gekko («Gier ist gut») aus «Wall Street» diente als Vorbild. Dazu passte die Marke GC. Ende der 90er eifert aber niemand mehr Gordon Gekko nach. Im Gegenteil: Cool sind besetzte Häuser wie die Wohlgroth, illegale Bars, Hip-Hop, die Alternativliga. Erfolgreich muss es nicht sein, lieber wild und aufregend.

Das verkörpert um die Jahrtausendwende der FCZ. Er liefert Geschichten, die bewegen. Im letzten Spiel rettet er sich in die Finalrunde, kassiert dann aber eine Forfaitniederlage, weil Raimondo Ponte einen Ausländer zu viel aufs Matchblatt gesetzt hat. Gleichzeitig holt er im Cup­final gegen Lausanne den ersten Titel seit fast zwei Jahrzehnten – und das im Penalty­schiessen. Mittendrin Figuren wie Urs Fischer und Fredy Chassot, nahbare und ungeschliffene Typen, mit denen sich die Klientel, die mittlerweile in den Letzigrund pilgert, perfekt identifizieren kann.

Die Nummer eins in der Stadt bleibt GC aber weiterhin. Als der geniale Richard Núñez den Klub 2001 und 2003 zum Meister macht, weist der Hardturm die zweithöchsten Zuschauerzahlen der Liga aus. Dennoch vermag er die breite Masse ­irgendwie nicht zu elektrisieren. An die erste Feier hat Roland Schwegler keine ­guten Erinnerungen: «Wir gingen mit dem Team in die Stadt essen und das wars auch schon. Da habe ich neidisch darauf geschaut, was beim FCZ los ist, wenn der was gewinnt.» Den Kulturwandel erlebt er nahe mit. Die neue Führung habe wenig emotionale Bindung gezeigt. Und ihr Plan geht nicht auf: Beide Mal verpasst GC den Einzug in die Champions League, die mittlerweile richtig Geld abwirft. Besser macht es der FC Basel: Auch er wird grosszügig alimentiert, schafft es aber im Gegenzug zu den Grasshoppers, in allen Bereichen zu wachsen. Er ist modern aufgestellt, hat ein neues Stadion, erreicht die Fans und erst noch die Europacup-Millionen.

Bei GC sind die Mäzene, die für die beiden Meistertitel zwischen 80 und 100 Millionen Franken verbraten haben sollen, bald wieder verschwunden. Das Intermezzo bereitet weiteren Boden vor für die Wachablösung – nicht nur national, sondern auch in der Stadt.

2003:

Die (Nicht)Beziehung zur Basis



Im Dezember 2003 sieht es mal wieder düster aus für den FCZ. In der Liga steht er auf dem letzten Platz, der im Sommer verpflichtete Trainer Lucien Favre erhält ein Ultimatum: Gewinnt er den Cup-Viertel­final in Meyrin nicht, muss er seine Koffer packen. Der FCZ siegt 3:0, Favre darf bleiben. Das Vertrauen sollte sich auszahlen.

Es ist die Zeit, in der sich die Stadien hierzulande mehr und mehr füllen, Ultra-Gruppierungen sorgen an Matchtagen für Stimmung. Beim FCZ gefällt sich die vielschichtige Allianz aus Secondos, Alternativen, Studenten und Handwerkern in der Rolle, den «Arbeiterverein» gegen den «Bonzenklub» zu unterstützen. Die Abneigung gegenüber GC gehört zur Identität.      

Die ganze Palette an Fans trifft sich in der Flachpass-Bar im Letzigrund. Geführt wird das Lokal von Fans, die es in ihrem Sinne gestalten. Sie verwandeln ein gewöhnliches Stadioncafé in eine Szenebeiz. Ein Glücksfall für den Verein, denn die Flachpass-Bar trägt viel zum Matcherlebnis bei. Fredy Bickel, der 2003 als Sportchef zum FCZ stösst, sagt: «Da sah man Junge, Verrückte, Wilde, einen bunt durchmischten Haufen.» Bei GC habe es auch ein Café im Stadion gegeben, dort seien bloss vereinzelte ältere Personen verkehrt. Ein krasser Gegensatz.

Das neue Publikum sieht im FCZ nicht primär den Fussballklub, den man anhand von sportlichen Kriterien misst, sondern ein Erlebnis, das man losgelöst vom Resultat miteinander zelebriert. Der Klub erkennt dieses Potenzial und empfängt die neue Klientel mit offenen Armen, bietet ihr gar den Raum mitzugestalten. Bickel trägt Redl Wehrli auf, die Kabine mit Graffiti zu verschönern und Porträts der Spieler zu sprayen. Dem Wunsch der Fans nach Nähe zu den Spielern entspricht der Klub, indem er diesen nach Heim­spielen auferlegt, den Ausgang durch die Flachpass-Bar zu nehmen. Er heuert einen jungen Marketingverantwortlichen an, selber ein Fan, der ein Gespür dafür hat, worauf die urbanen Supporter anspringen.

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Bereits lange vor dem Anpfiff (und noch Stunden nach dem Schlusspfiff) versammeln sich FCZ-Fans an Matchtagen in und um die Flachpass-Bar.

Bei GC hingegen begegnet man dem Treiben in der eigenen Kurve mit grosser Skepsis. «Der Klub ging rigoros gegen uns Fans vor», berichtet Silvan Keller, der dies hautnah erlebt hat. Auch anderswo habe es Reibereien gegeben zwischen Fans und der Führung, bei GC seien diese aber besonders stark gewesen. «Stadionverbote wurden selbst für ‹unanständiges Benehmen› verteilt. Zeitweise durften rund 300 Leute nicht mehr an die Heimspiele.» Der Klub verpufft viel Energie beim Versuch, die aktivsten Supporter zu zähmen, weil sie nicht zum Image des edlen Herrenklubs passten. «Die GC-Führung hat überhaupt nicht verstanden, was in den Kurven passiert, und das nur als Bedrohung, nicht als Chance wahrgenommen.»

Wie weit entfernt von der Basis die GC-Führung ist, zeigt sich beispielhaft an einer Aktion, die noch die Mäzene Gut und Gerber aufgleisen: Im Bestreben, mehr Junge und Familien anzusprechen, lancieren sie die Marketingkampagne «GC-Family». In Werbespots und auf Plakaten treten etwa eine frisch vermählte Braut, Kinder mit Teddybär, ein futuristischer Yuppie, ein Mann im Schottenrock, ein Quoten-Kuttenfan und andere Figuren aus der Retorte auf, der dazugehörige Song scheppert an Heimspielen aus den Lautsprechern. 

«Diese Aktion war suizidal», sagt Silvan Keller. «Damit hat man den Klub der Lächerlichkeit preisgegeben.» Die Medien machen sich darüber lustig, der Stadtrivale sowieso. Die GC-Family fällt ausgerechnet in eine wegweisende Zeit: Die lebhaften Kurven üben auf viele Junge eine grosse Faszination aus, sie wollen zu einem Klub gehören, der cool ist. Und cool, das ist die GC-Family wahrlich nicht. Dass sich in der Estrade Ost noch immer vereinzelte Rechtsradikale tummeln, macht sie auch nicht attraktiver. Der FCZ hat da die weitaus besseren Karten. Er setzt allerdings nicht nur auf die Kurvengänger: Der Kraftraum nahe der Flachpass-Bar wird in einen VIP-Bereich umgewandelt. «Uns war klar», sagt Fredy Bickel, «dass wir beide Schienen fahren müssen.» Auch Wirtschaftsanwälte oder Banker finden im Arbeiterklub eine Heimat.

2004:

Prägendes Drama

Im März 2004 erleben die Zuschauer im Hardturm eine der verrücktesten Partien der helvetischen Fussballgeschichte. Im Cup-Halbfinal liegt der FCZ zehn Minuten vor Schluss mit 5:2 vorne. Eduardo mit einem Doppelpack und Mladen Petric retten das Heimteam in die Verlängerung, wo Richard Núñez die Entscheidung besorgt.

«Die Niederlage, so schmerzhaft sie war, hat viel dazu beigetragen, die Leute emotional näher an den Klub zu binden», sagt Redl Wehrli. Sie fügt sich bestens ein in die Achterbahnfahrt der Gefühle, die so typisch ist für den FCZ. Selbst traumatische Erlebnisse wie dieses Ausscheiden wirken sich positiv aus, das Image des aufstrebenden, aber immer wieder stolpernden Underdogs wird geradezu zelebriert. Und so gelingt es ihm, noch in der Niederlage die bessere Geschichte zu schreiben.

Bei GC geht man mit Rückschlägen anders um. Das zeigt sich im folgenden Cupfinal, den das Team gegen Absteiger Wil verliert. Diese skurrile Konstellation böte ebenfalls Potenzial für bleibende Geschichten, doch identitätsstiftend ist bei GC stets der Erfolg. Dass der Klub landesweit so viele Supporter hat, verdankt er nicht dramatischen Volten, sondern seinen unzähligen Trophäen. 

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Eine Partie wie eine Achterbahnfahrt: Selbst eine epochale Cup-Niederlage – hier erzielt Richard Núñez das 6:5 – hat beim FCZ positive Auswirkungen. (Bild: Keystone)

2005:

Raus aus der Stadt

GC kann sein lang ersehntes Schmuckstück präsentieren: den Campus in Niederhasli. Dort bietet der Klub seinem Nachwuchs ideale Bedingungen. Der FCZ vermag das nicht – und wird doch zum grossen Profiteur. Fredy Bickel erzählt: «Wir mussten danach kaum mehr Scouting betreiben. Plötzlich riefen uns Eltern an mit der Bitte, ihren Sohn zu übernehmen, weil sie ihn nicht mehrmals pro Woche nach Nieder­hasli fahren können.» GC reagiert zwar und richtet einen Shuttle-Bus ein, die Lage verändert das aber kaum.

«Der Klub hat die Auswirkungen völlig unterschätzt», sagt GC-Fussballsektion-Präsident Silvan Keller. Zudem habe er die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Zogen in den 1980er-Jahren noch viele Leute aufs Land, setzte Ende der 90er eine Trendwende ein. Die Stadt war wieder in und hatte etwas zu bieten. Der Protestanten-Mief war verflogen, es eröffneten Szenebars, Clubs und 24-Stunden-Shops. Der Umzug nach Niederhasli sei nicht nur der Symbolik wegen ein Fehler gewesen, so Keller. «Auf dem Campus entstand eine Bubble, dort gibt es kaum mehr Impulse von aussen.» Die Abkapselung sei nach wie vor problematisch: Die Junioren stammen heute zu einem grossen Teil aus der Umgebung von Niederhasli, aus der Stadt kommen kaum welche. 

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2007:

Derby in Weiss



Wann war der Zeitpunkt, an dem die Wach­ablösung vollzogen war? Fredy Bickel überlegt nicht lange: «Beim ‹Derby in Weiss›.» Im Mai 2007 also. Am letzten Spieltag kann sich der FCZ als Heimteam im Hardturm – der Letzigrund wird gerade für die kommende EM hergerichtet – ausgerechnet gegen GC zum Meister küren. Das ganze Stadion trägt Weiss, vor dieser eindrücklichen Kulisse schiessen Santos und Xavier Margairaz den FCZ zum zweiten Titel in Serie. «Es war wirklich fast kitschig», sagt Bickel. «Wenige Jahre zuvor waren wir beinahe am Boden. Jetzt hatten wir drei Titel in drei Jahren geholt – notabene mit vielen eigenen Junioren wie Blerim Dzemaili, Almen Abdi oder Florian Stahel. Das war etwas, das zuvor nur GC gekonnt hatte.»

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Sinnbild für die Wende: FCZ-Fans stehen 2007 beim Derby im GC-Sektor und hüllen den Hardturm in Weiss.

Den Soundtrack zu den Erfolgen liefert Redl Wehrli. Aus Jux startet er mit Hallygally-Freunden die Rap-Combo Radio 200 000. In ihren Lyrics ist der FCZ omnipräsent («Bern, Basel oder Wil / mir gönd a jedes Schpiil»), ihre Beats werden zum Puls der Kurve. Auch House-DJ Dani König, Reggae-Musiker Elijah oder die Liedermacher Schoedo widmen ihrem Herzensverein Songs. Der neue FCZ ist kreativ, urban, multikulturell. Es passt einfach alles. Oder wie Wehrli es ausdrückt: «Es war wie in einem Hollywood-Drehbuch. Diese Hochs und die Rückschläge, die aufwühlenden Momente, und alles lief für den FC Zürich. Der Fussballgott wollte es offenbar einfach so.»

Und GC erlebt noch ein weiteres Desas­ter. Beziehungsweise: besorgt es gleich selber. Im September 2007 wird im Hardturm die letzte Partie ausgetragen. Man will in den Letzigrund ausweichen, bis ein neues Stadion gebaut ist. Die Heimstätte wird ein Jahr später abgerissen. «Dafür gab es keinen Grund», sagt Silvan Keller. «Niemand reisst sein Haus ab, bevor ein neues errichtet werden kann.» Es habe keine behördlichen Auflagen für einen Auszug gegeben, es sei vielmehr ein bewusster Entscheid gewesen, in den Letzigrund umzuziehen. «Man hat sich vom Effekt der neuen Stadien in Basel oder Bern blenden lassen und damit kal­kuliert, 10 000 Saisonkarten und viele VIP-Logen verkaufen zu können.» Davon ist GC im Letzigrund meilenweit entfernt. «Hätten wir den Hardturm noch, wäre er heute das Kultstadion schlechthin.» 

Ausgerechnet in der Zeit, in der sich die hiesigen Stadien (und insbesondere die Kurven) weiter füllen – zwischen 2005 und 2008 steigt der Ligaschnitt um über 3000 Zuschauer –, hat GC nichts zu bieten: keine Heimat, keinen sportlichen Erfolg, keine Präsenz in der Stadt, keine pulsierende Fankurve. Die Heimspiele locken zwar nicht weniger Publikum als zuvor an, jene der übrigen Klubs allerdings plötzlich deutlich mehr. Die massiv ge­stiegene ­Popularität des Fussballs ist allerorts sicht- und messbar – ausser bei GC. Vieles davon hat der Verein sich selber zuzuschreiben. Keller spricht die Führung an: Seit den Champions-League-Zeiten hatte GC 13 Präsidenten, die oft von aussen kamen und selten emotional mit dem Klub verbunden waren. Hauptsächlich mussten sie gegen Intrigen bestehen oder die Scherben der Vorgänger aufwischen. Der FCZ hingegen hatte in dieser Dauer lediglich zwei Präsidenten, und denen liegt das Schicksal des Vereins erst noch sichtlich am Herzen: Sven Hotz und ­Ancillo Canepa. Keller ist überzeugt: «Wir haben dem FCZ-Erfolg den Weg geebnet. Hätten wir uns nicht so angestellt, wären die Verhältnisse nicht so gekippt.»

Der FC Zürich ist beim «Derby in Weiss» bereits so gefestigt, dass er selbst grosse Veränderungen mühelos über­steht. Canepa ist erst seit Kurzem im Amt; Meistertrainer Favre wandert in die Bundesliga ab, Bernard Challandes wird sein Nachfolger. 2009 holt der FCZ nochmals den Titel, zieht gar in die Champions Lea­gue ein. Selbst der zwischenzeitliche Abstieg 2016 vermag nichts an den Stärke­verhältnissen in der Stadt zu ändern. Es brodelt zwar kurz im Verein, doch dann zelebriert er die einjährige Tour durch die Challenge League. GC indes schöpft nur 2013 mit dem Cupsieg kurz Hoffnung, dann stehen die nächsten Zerreisproben an. Auf den Fall aus der höchsten Spielklasse folgt 2020 die Übernahme durch chinesische Investoren, worauf sich weitere treue Seelen vom Klub abwenden. Es droht die Marginalisierung in der Stadt. 

2022:

Zementierung – auf ewig?

Der FCZ spinnt das Märchen weiter. 2022 bricht er überraschend die Meisterserie der Young Boys. Das beschert dem Letzigrund weiteren Zustrom. Über 15 000 sind im Schnitt an den Heimspielen, mehr als doppelt so viele wie bei GC. Auch die ländlichen Gebiete sind längst von der Sogkraft erfasst. Aus dem Säuliamt etwa, wo Fredy Bickel herkommt und das seit eh und je GC-Gebiet war, strömen nun Hunderte von jungen Fans an FCZ-Partien, die Bahnhöfe sind verziert mit Klebern und Graffiti. Ähnliches passiert in allen Agglo-Regionen. Bickel sagt: «Der Vorsprung, den der FCZ heute auf GC hat, ist einiges grösser als der Rückstand, den er in den 90ern noch hatte.»

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«Gmeinsam unufhaltsam?» Dem FCZ war auch in den letzten Jahren zum Feiern zumute. Und neben dem Platz mobilisiert er die Massen. (Bild: © KEYSTONE / ENNIO LEANZA)

Der Schmetterlingseffekt besagt, dass ein unscheinbares Ereignis eine ganze Kettenreaktion und so unvorhersehbare, grosse Veränderungen auslösen kann – wie der Flügelschlag eines Sommervogels einen Tornado. Was sich in der jüngeren Geschichte der Zürcher Klubs abgespielt hat, waren vielleicht etwas mehr als Flügelschläge, die Auswirkungen hätte dennoch niemand vorhersehen können. Was, wenn Martin Brunner diesen Cupfinal-­Penalty nicht pariert hätte und es so kein Duell gegen Tottis Roma gegeben hätte? Wären die «Modefans» eher in den Hardturm gelockt worden, hätten die GC-­Mäzene nur etwas länger Kaliber wie Núñez finanziert? Wäre Favre über Meyrin gestolpert, wäre der 13. Mai 2006 heute ein ganz normales Datum? Und wäre ohne diese Dramen der FCZ jetzt das, was er ist? Oder was, wenn es den Hardturm als Stadion weiterhin gäbe – dafür den Campus nicht? Wie präsentierte sich GC dann? Fredy Bickel kommt ins Grübeln: «Es ist eigentlich unglaublich. Es gab so viele Punkte, an denen es ganz anders hätte laufen können.»

Allein mit Schicksal lässt sich die Wende aber nicht erklären. Ja, vielleicht hätten die Grasshoppers mit etwas mehr strategischem Geschick und Glück das Wiedererstarken des Stadtrivalen eindämmen können. Das einstige Standing zu halten, wäre gleichwohl schwierig gewesen. Der gesellschaftliche Wandel in Zürich, die Modernisierung des Fussballs und die neue Anziehungskraft der Kurven  sprechen dagegen – genauso wie das Aufkommen des FC Basel und später der Young Boys. Mit ihren neuen Stadien und als ­Alleinherrscher in ihren Städten hielten diese ohnehin alle Vorteile in der Hand, um GC als Ligakrösus und -dominator ­abzulösen. Was das bei den Hoppers ausgelöst hätte, die sich wie kein zweiter Verein stets dadurch identifizieren, die klare Nummer eins im Lande zu sein, auch ­darüber kann man nur spekulieren. 

 Fakt ist: Vor 25 Jahren war GC dem FCZ in allen Bereichen um Längen voraus, heute präsentiert sich die Situation umgekehrt. Doch könnte das Pendel wieder in die andere Richtung schlagen? Bickel gibt sich zurückhaltend: «Ich werde nicht mehr erleben, dass das wieder kippt.» Es sei aber bei GC noch genug Fundament da. Man müsse dafür die ehemaligen Spieler und Funktionäre, die sich noch immer ­regelmässig träfen, wieder einbeziehen, um dem Klub ein Gesicht zu geben. Auch die Kurve verfüge über eine Basis da, auf der sich aufbauen lasse. 

Silvan Keller, der die Spiele nach wie vor in der GC-Fankurve verfolgt, gibt zu bedenken: «Heute steht da eine eingeschworene Gemeinschaft, für Neuankömmlinge ist das wenig prickelnd.» Den FCZ zu kopieren versuchen, hält er für den falschen Weg. Eher solle der Klub einen Schritt in die Richtung machen, wo er einst herkam: Er müsse wieder vermehrt Leute aus studentischem Umfeld und Familien ansprechen, das aber cooler aufziehen. Dazu gehören für Keller auch Events auf Stadtgebiet, wie er sie selber auch schon auf­gezogen hat, als er 2015 auf der Hardturmbrache einen Kunstrasen verlegte und ein Legendenspiel austragen liess. Er räumt aber ein: «Nach zwei Dekaden Kultur­losigkeit ist es schwierig, wieder Fuss zu fassen. Neue Fans gewinnst du mit Erfolg, aber du musst sie dann auch halten können, wenn der Erfolg mal ausbleibt.» 

Keller hält es für denkbar, dass die Magnetwirkung der Südkurve nachlassen wird. «Anfangs ist es für junge Fans ja aufregend, in der Masse in einheitlicher Ultra-Kleidung unterwegs zu sein. Aber das kann auch irgendwann verleiden.» Anders gesagt: Etwas Cooles kopieren junge Leute gerne; wenn es aber alle machen, verliert es die Exklusivität und den Reiz. 

Liegt hier vielleicht die Chance von GC? Schliesslich müsste es doch als Underdog – und das ist der Rekordmeister nun mal mittlerweile – einfacher sein, Sympathien zu gewinnen. Auch aus diesem Grund entdeckten Leute wie Redl Wehrli Mitte der 90er den Letzigrund für sich. Er sagt: «Bei uns lag nahe, dass wir uns zum FCZ bekennen, der uns mit seinen Werten und seiner Geschichte viel näher lag als GC. Heute landen alle, die in irgendeiner Form Teil der urbanen Subkultur sein wollen, unweigerlich in der Südkurve.» Wer sich von dieser Masse abgrenzen will, sucht sich eine «coole» Alternative. Doch dafür kommt ein Investoren­klub wie GC kaum infrage. Noch eher wendet sich so jemand dem FC Winterthur zu – oder vom Fussball ab. Redl Wehrli ist jedenfalls überzeugt: «So wie GC derzeit aufgestellt ist, gibt es für Junge, die ähnlich ticken wie wir damals, keinen Grund, Fan dieses Klubs zu werden.»

Zusätzlich erschwert die zunehmende Militanz in gewissen Kreisen, die auch Wehrli sehr stört, dass GC neue Supporter findet. Gewalt und Übergriffe mag es auch früher auf beiden Seiten gegeben haben, aber in Zeiten von massiv gewachsenen, allgegenwärtigen Kurven zementieren sie die Position des Stärkeren mehr denn je. Besonders das GC-Fansein kommt heute mancherorts einer Mutprobe gleich. Zudem scheint das Potenzial der Stadion­gänger nahezu ausgeschöpft, die Zuschauerzahlen bewegen sich seit Jahren im gleichen Bereich. Die Kurven sind heute zudem wesentlich besser organisiert und achten selbst darauf, dass Nachschub ­bereitsteht. Die Südkurve weiss ihre Möglichkeiten zu nutzen, etwa indem sie – wie letzten Mai geschehen – in Schulhäusern Bälle mit dem Kurvenlogo verteilt. 

Manchmal aber, das lehrt diese Geschichte beispielhaft, braucht es gar keine ausgefuchste Strategie. Bisweilen kommt es auch so, dass man sich in unsteter Manier das Glück erarbeiten kann. Und es einem nicht zuletzt hold bleibt, weil der Rivale gleichzeitig fast alles falsch macht. Dann kann plötzlich eine Bewegung in Gang gesetzt werden, die sich aus sich selbst nährt, wächst und den Stadt­rivalen überrollt. Heute brauchte es dafür allerdings mehr als damals Ende der 90er. Viel mehr.