Amateurhaft
Die Schweizer Schiedsrichter haben zuletzt einiges verpfiffen. Mit Profis würde es besser, glauben die Verantwortlichen. Aber so einfach ist das nicht.
Ein Artikel aus ZWÖLF #109 (Juli/August 2025)
Text: Silvan Kämpfen (Mitarbeit: Raphael Rehmann und Mämä Sykora)
«Brents Abgang ist ein grosser Verlust.» Diese erstaunliche Aussage fällt gleich zu Beginn der Saisonbilanz-Medienkonferenz der Profi-Schiedsrichter Anfang Juni in Volketswil. Brent, das ist Brent Reiber. Ein Mann, den alle noch als Eishockey-Schiri kennen, der jetzt aber vier Jahre lang beim SFV als 100 Prozent angestellter Elite Referee Manager amtete. Als solcher legte er fest, wer Basel – YB und Sion – Servette pfiff, tauschte sich mit Sandro Schärer über Befinden und Leistungen anlässlich eines Champions-League-Matchs aus und bereitete Videomaterial für Schulungen vor. Wenn Reiber spricht, sieht man Helme und Bullypunkte vor sich. Der Mann aus der kanadischen Provinz Saskatchewan sagt Sätze wie: «Die second half war nicht so gut on the pitch, das heisst, wir haben mehr Action in Volketswill.» Der allgemeine Tenor unter den Schiedsrichtern: Reiber ist ein guter Typ, mit dem Fussball hat ers aber nicht so. Es wäre eine grausame Verkürzung, die zuletzt schlechten Leistungen der Schweizer Referees mit der Personalie Reiber zu erklären. Aber wenn selbst der grösste Profi unter den Schiris ein fachlicher Amateur ist, verheisst das nicht nur Gutes.
Gerade in der Rückrunde häuften sich die falschen Pfiffe in Schweizer Stadien. Würden wir die umstrittenen Entscheide hier alle aufführen, wären diese und die nächste Seite vollgeschrieben. In Erinnerung dürfte vielen das entscheidende Abstiegskampf-Duell zwischen Winterthur und Yverdon sein. Dort kam es zu zwei nahezu identischen Szenen im Gäste-Strafraum: Einmal pfiff Schiedsrichter Sven Wolfensberger Elfmeter (unwidersprochen vom VAR), beim zweiten Mal liess er laufen, der VAR intervenierte, Wolfensberger beharrte aber auf seinem Entscheid. Eine Linie war da nicht erkennbar. Das ist sinnbildlich – genauso wie der Penalty von Biel im Cup gegen YB. Der nicht kohärente Einsatz des VAR und der Umgang mit sogenannten Soft Fouls im Strafraum gelten als derzeit grösste Fehlerquellen.
«Nicht befriedigend», sagt auch Dani Wermelinger über die Leistungen seiner Schützlinge in der Liga, was ihn dennoch zur Schlussfolgerung bringt, dafür die Note 4,5 auszusprechen. Wermelinger ist ehemaliger Super-League-Referee. Heute arbeitet er als Sektionsleiter Controlling und Rechnungswesen im Bau-, Verkehrs- und Umweltdepartement des Kantons Aargau, daneben amtet er als Chef des Ressorts Spitzenschiedsrichter beim Verband. Die Reihenfolge ist wichtig. Denn seine Rolle bei den Top-Schiris entspricht etwa der eines Verwaltungsratspräsidenten einer Firma. Er hat eine Aufsichtsfunktion, angestellt ist er aber nicht. Operativer Geschäftsführer wäre Reiber. Aber Wermelinger, eine dominante Erscheinung, sieht sich als Chef im engeren Sinne. Aufgebote landen deshalb weiter auf seinem Tisch, mit den Schiedsrichtern tauscht er sich ebenfalls aus, und wenn die Öffentlichkeit nach einem Fehler tobt, sieht er sich in der Pflicht, Auskunft zu geben. Man muss sich fragen, wie sinnvoll es ist, wenn Wermelinger die Aufgaben an sich reisst, die eigentlich seine Angestellten erledigen müssten. «Es geht um das Übernehmen von Verantwortung. Ich finde es richtig, wenn ich als Chef den Kopf hinhalte, wenn es nicht gut läuft», sagt er. Vielleicht ändert sich das aber ohnehin bald. Das «Experiment» Brent Reiber, wie es viele nennen – er wurde geholt, um eine neue Perspektive einzubringen –, wird nun beendet. Er geht zurück zum Eishockey. Sein Nachfolger wird der im letzten Herbst zurückgetretene langjährige Schiedsrichterassistent Bekim Zogaj. Er wird inhaltlich wieder mehr Gehör finden.
Hobby-Insel im Profi-Land
Der Amateurismus im Schiedsrichterwesen zieht weite Kreise. Da sind zum Beispiel die Coaches, die früher Inspizienten hiessen. Viele ehemalige Schiedsrichter wie der bis 2022 pfeifende Alain Bieri oder der 67-jährige Andreas Schluchter sind als solche tätig. Sie fahren Wochenende für Wochenende quer durchs Land, eine Stunde vor Anpfiff müssen sie im Stadion sein, betreuen den Schiedsrichter vor Ort und bewerten ihn während des Matchs. Nach Schlusspfiff besprechen sie mit ihm die kniffligsten Szenen, unterstützen ihn bei der Selbstevaluation. Danach schreiben sie einen Bericht, geben eine Note ab. Gesamtaufwand: 8 bis 9 Stunden. Entschädigung: 250 Franken zuzüglich Fahrspesen. Ein Hobby.
Zu guter Letzt sind es die Schiedsrichter selber, die über die Bedingungen klagen. Dass jemand um 2 Uhr morgens aus Lugano nach Hause kommt und um 7 Uhr zur Arbeit muss, ist keine Seltenheit. «Wir sind die einzigen Akteure in einem Profibetrieb, die keine Profis sind», hört man von den Schiedsrichtern unisono. Die Schiedsrichter und ihre Chefs wollen die Bedingungen nicht als Ausrede verstanden wissen, aber sie sind überzeugt, dass die ungenügenden Leistungen eng damit zusammenhängen. Wer ausgeruhter und freier im Kopf sei, sei resilienter und könne einfach eine bessere Leistung erbringen, sagt ein Ex-Schiedsrichter.
Der SFV hat aktuell mit Sandro Schärer einen Schiedsrichter zu 80 Prozent angestellt. Dies, weil er in der Elite-Gruppe der UEFA ist und international bedeutende Spiele pfeift. Urs Schnyder ist zu 60 Prozent angestellt, die übrigen FIFA-Schiedsrichter – Luca Cibelli, Alessandro Dudic, Lukas Fähndrich, Désirée Grundbacher, Lionel Tschudi und Sven Wolfensberger – haben beim SFV ein 50-Prozent-Pensum. Dazu kommen Entschädigungen pro Einsatz – in der Super League rund 1200 Franken, als Assistent die Hälfte. Einer wie Alessandro Dudic kommt nach eigenen Angaben insgesamt auf 70'000 bis 80'000 Franken pro Saison. Er betont aber: «Wir müssen Massagen, Physios, Mental Coaching, Fitnesstraining alles selber bezahlen – ein Witz.» Die restlichen Super-League-Schiris – Turkes, Gianforte, von Mandach und wie sie alle heissen – sind dann nur noch zu je 20 Prozent angestellt.
Zurzeit sind Verhandlungen im Gang, das Schiedsrichterwesen weiter zu professionalisieren. In seiner Wunschvorstellung würde Wermelinger das Pensum der FIFA-Schiedsrichter auf 80 Prozent erhöhen, jenes der übrigen in der Super League auf 50 bis 60 Prozent und neu auch den Challenge-League-Schiris 20 bis 30 Prozent ermöglichen. Gerade bei Letzteren sei die aktuelle Situation prekär. Wer am Freitagabend in Nyon einen Match pfeift und vielleicht am Sonntag in Volketswil den VAR-Assistenten oder im Stadion den vierten Offiziellen gibt, kommt praktisch auf eine 7-Tage-Woche. Das gehe auf Dauer nicht gut, ist Wermelinger überzeugt: «Ich mache mir grosse Sorgen um die Belastung unserer Schiris.»
Will überhaupt jemand Profi-Schiedsrichter sein? Viele unserer Referees sind gut ausgebildet und hoch qualifiziert. Sie verdienen in der Privatwirtschaft sehr gut.
Das Profitum klingt in der Theorie gut, aber es gibt ein grosses Problem: Will überhaupt jemand Profi sein? Viele unserer Schiedsrichter sind gut ausgebildet und hoch qualifiziert. Sie verdienen im Hochlohnland Schweiz in der Privatwirtschaft sehr gut, und es öffnen sich Karrieremöglichkeiten. Johannes von Mandach zum Beispiel arbeitet als Ökonom beim Beratungsbüro Wellershoff and Partners. Er redet in der SRF-«Tagesschau» über Blasenbildungen in der Geldpolitik und veröffentlicht Arbeiten zur Chemie- und Pharmabranche. Irgendwo daneben muss im Kopf auch noch Platz sein für die 37. Reform der Handsregel. Will man im Schiedsrichterwesen aber international Karriere machen – in der Regel dauert eine solche bis 45 –, muss man im Beruf zurückstecken, und zwar gerade zu jener Zeit, wo es auch im Job die grössten Sprünge zu machen – und es erst noch mehr zu verdienen gibt.
«Es braucht eine ganz grosse Portion Leidenschaft, und das ist nicht sehr rational», sagt Adrien Jacottet. Er pfiff von 2010 bis 2021 in der Super League. Daneben arbeitete er 50 Prozent als Anwalt. Vielleicht reichte es ihm auch deshalb als Schiedsrichter nicht an grosse Turniere. Mit 38 hörte der zweifache Familienvater auf. «Wenn man als Schiedsrichter bis 45 weitermacht und nicht einen Posten bei der FIFA oder der UEFA bekommt, wird es schwierig. Dann willst du in deinen angestammten Beruf zurück, wo du wenig Erfahrung sammeln konntest, und die Leute fragen dich: Okay, aber was verstehen Sie denn von … Bauwesen?» Heute ist Jacottet Partner einer Kanzlei. Andere Berufe lassen mehr Flexibilität zu. Mirel Turkes ist zum Beispiel Fahrlehrer, Sandro Schärer ausgebildeter Sportlehrer. Da kann man seine Schichten besser einteilen und später wieder in den Beruf zurück.
Alessandro Dudic ist ebenfalls Anwalt. Der 36-Jährige legt seine Priorität aber klar auf den Fussball und erhofft sich eine internationale Karriere. Er arbeitet seit acht Jahren in der Rechtsschutzberatung einer Versicherung, das gibt ihm die nötigen Freiheiten, wenn er mal wieder einen Youth-League-Match in Trabzon pfeifen muss. Aber eine Laufbahn vor Gericht oder in einer Kanzlei liegt da nicht drin. Er sagt klar: «Ich opfere meine Karriere als Anwalt.» Einen Profivertrag als Schiedsrichter würde er sofort unterzeichnen – wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Wie viel ein Schiri auf 100 Prozent verdienen soll – 120'000, 150'000, 180'000 –, ist derzeit Gegenstand der Diskussionen.
Doch wer soll das bezahlen? Die Schiedsrichter sind beim SFV angegliedert, die Swiss Football League – also die Vereinigung der Super-League- und Challenge-League-Klubs – mietet sie. Aktuell kostet das rund 3,1 Millionen Franken pro Jahr für die Schiedsrichter und 800'000 Franken für den Videoschiedsrichter. Bereits mit der Einführung des Videobeweises stiegen die Kosten also deutlich – die Polemik ist dadurch aber nicht verschwunden. «Fehlerfrei werden wir nie sein. Diese Erwartung können wir nicht erfüllen. Auch die VAR sind Menschen», sagt Dani Wermelinger. «Aber mit einer Erhöhung der Pensen könnten wir noch einmal um ein paar Prozent besser werden.» Heisst: Nicht mehr 94 Prozent aller Entscheide wären richtig, sondern vielleicht 96 Prozent. Was das Profitum konkret kosten würde, will Wermelinger nicht sagen. Seiner Meinung nach würde es reichen, wenn die Klubs zusätzliche 0,2 bis 0,3 Prozent ihrer Budgets beisteuern würden. Das wären beispielsweise beim FC Luzern lediglich rund 60'000 Franken. Allerdings: Ein Modell, nach dem die Klubs je nach Budget unterschiedlich viel bezahlen, dürfte eher illusorisch sein.
Auch Profis unter Beschuss
Priorität geniessen die Anliegen der Schiedsrichter nirgends. Sie gelten in erster Linie als Kostenfaktor, Geld investiert man eher in Bereiche, die spätere Einnahmen versprechen. Die Klubs bieten lieber einem umworbenen Stürmer etwas mehr Lohn in der Hoffnung, er schiesse sie dann in den Europacup. Möglichst einwandfreie Spielleitungen erwarten die Vereine dennoch. Wie viel wären ihnen also ein paar Fehler weniger und ein erleichtertes Leben der Unparteiischen wert? Wir fragen bei Sion-Präsident Christian Constantin nach, dem wohl erprobtesten Schiedsrichterkritiker des Landes. Er gibt sich sehr offen für Wermelingers Vorschlag. «Für so was war ich schon immer», behauptet er. Die Liga solle einen Vorschlag unterbreiten. Er zweifelt aber, dass sich genügend Schiedsrichter finden würden, die ihre berufliche Karriere opfern. «Wer fünf bis sieben Jahre auf hohem Niveau pfeift, ist weg aus dem Arbeitsmarkt. Da ist das Milizprinzip die einzige Möglichkeit.»
In Spanien sind selbst die VARs Profis. Dennoch würde kaum ein Spanier sagen, seine «árbitros» seien die besten der Welt.
Schiedsrichterfehler bieten immerhin den Klubs ein Alibi, die eigenen Schwächen zu kaschieren. Uli Forte hat mit seiner Wutrede zuletzt erfolgreich auf dieses Mittel zurückgegriffen. Und nach YBs Cup-Out sprach alles über Dudics Penaltypfiff und den ausgebliebenen VAR-Ein-griff – aber kaum darüber, dass es ein 80-Millionen-Klub nicht fertigbringt, einen Drittligisten zu schlagen.
Zudem stecken auch alle anderen Länder – Profis hin oder her – in permanenten Schiedsrichterdiskussionen. In Norwegen forderte eine Mehrheit der Profiklubs, den VAR abzuschaffen. In Deutschland sagte Ex-Schiri Babak Rafati, die Qualität sei durch den Videoschiedsrichter massiv eingebrochen. In Frankreich spricht Marseille-Präsident Pablo Longoria von «Korruption». In Österreich übt der Ex-Basler Marc Janko regelmässig Kritik an der Auswahl der Spielleiter und deren Entscheidungen. Vor Kurzem äusserten sich die Schiedsrichter auf Social Media, man müsse sie besser schützen. Dies, nachdem Sturm-Präsident Christian Jauk nach dem Spiel Sebastian Gishammer auf dem Rasen zur Rede gestellt hatte, was in einer Hetzjagd gegen den Referee und seine Familie auf Social Media ausartete. Generell scheint sich die Erkenntnis durchgesetzt zu haben, dass Fussball eben nicht schwarz-weiss ist wie Volleyball, sondern ein Sport der Grauzonen, und auch der VAR sowie ein Auslegungskatalog bis ins letzte Detail daran nichts ändern können.
Die grossen europäischen Ligen leisten sich alle Profi-Schiedsrichter. Am besten verdienen sie in Spanien, wo sie durchschnittlich rund 300'000 Euro pro Jahr bekommen, rund das Zehnfache des Durchschnittslohns. Hauptberuflich amten selbst die VARs, sie werden zu Fitnesstests verpflichtet, damit sie im Fernsehen optisch eine Falle machen. Kaum ein Spanier würde aber sagen, seine «árbitros» seien die besten der Welt. Vielmehr würde er bemängeln, dass dieser oder jener stets Barça oder Real bevorzuge. Die Madrilenen wiederum schiessen regelmässig selber äusserst scharf gegen Unparteiische. Zusammengefasst: Schiedsrichterleistungen werden vor allem dann kritisiert, wenn seitens der Zuschauer eine emotionale Nähe besteht. Darum sind Fans stets der Ansicht, dass es gerade um ihre Liga besonders schlimm stehe.
Internationale Lichtblicke
Das Abschneiden auf internationalem Parkett relativiert denn auch die aktuelle Kritik an den Schweizer Schiedsrichtern. Dort pfeifen sie nämlich so gut wie seit Langem nicht mehr. Dani Wermelinger gibt ihnen gar die Note 5,5, was freilich auch etwas übertrieben scheint. Denn die meisten unserer FIFA-Schiedsrichter werden nicht für Topspiele eingeteilt.
Nationales Aushängeschild ist Sandro Schärer. Den Champions-League-Viertelfinal Bayern – Inter oder den Nations-League-Final Portugal – Spanien leitete er mit Bravour. Den VAR gab Fedayi San. Der gelernte Haustechniker und Spezialist für CAD-Planungssoftware hat offenbar eine ganz besondere Auffassungsgabe, wenn es um den Umgang mit Bildern geht. Eine Kategorie hinter Schärer folgt Urs Schnyder. Auch er darf ab und zu Champions League pfeifen. Ebenfalls dorthin will auch Alessandro Dudic. Nach ersten Auftritten in der Europacup-Qualifikation wurde er aus rund 250 Schiris für die U21-EM ausgewählt. «Für mich ist das eine Riesenchance», sagt Dudic. Man fange international bei null an. «Du musst dich raufkämpfen, immer leisten.» Ganz offensichtlich liegt der Fokus für ihn momentan auf der internationalen Laufbahn, die Schweiz ist das Tagesgeschäft. Bei der Einsatzplanung im Inland wird darauf Rücksicht genommen, dass unsere Schiedsrichter international gefragt sind. Mit dem Effekt, dass die Super League die Besten nur selten erlebt: Sandro Schärer leitete diese Saison nur gerade elf Partien.
Mit dem Spagat zwischen Aus- und Inland ist es ein bisschen wie bei den Klubs. Der FC St. Gallen hat sich diese Saison erstmals seit Langem wieder für eine Gruppenphase qualifiziert. Von dieser Erfahrung mag er mittelfristig profitieren, aber die aktuelle Spielzeit hat darunter gelitten. Wenn ein Schweizer Schiri Manchester United oder eine hitzige Conference-League-Partie gepfiffen hat, kommt er mit anderem Selbstverständnis auf die Schützenwiese. Aber es besteht die Gefahr der Ermüdung und dass der Fokus verloren geht. Dani Wermelinger sagt selbstkritisch: «Es regt mich auf, dass wir die sehr gute internationale Performance in der Schweiz zuletzt nicht auf den Platz gebracht haben. Wir dürfen unsere Homebase nicht vergessen.» Der Chef hat gesprochen.
Problemzonen beim Pfiff
Neben den allgemeinen Bedingungen besteht auch in anderen Bereichen hierzulande Verbesserungsbedarf. Das sind die grössten Baustellen.
Der VAR spielt Schiri
Der Hauptvorwurf an den VAR ist, dass er zu detektivisch unterwegs sei. Die Zahl der Eingriffe stieg im Vergleich zur letzten Saison von 74 auf 101, 92 Mal revidierte der Schiri seinen Entscheid. In fast jeder zweiten Partie meldet sich also Volketswil. Das ist ähnlich oft wie in Deutschland oder an der letzten EM, aber fast doppelt so oft wie in England. «Unsere VAR und Assistenten wollen den bestmöglichen Job machen. Da passiert es manchmal, dass man zu genau werden will, dass man suchen geht. Das ist der Anfang vom Ende des VAR», sagt Dani Wermelinger.
In den Augen vieler ist es ein Systemfehler, dass der VAR genauso aktiver Schiedsrichter ist wie sein Kollege auf dem Rasen und gleich tickt. Verschiedene Vorschläge kamen schon auf, um dem Abhilfe zu schaffen: Wäre es nicht sinnvoll, einen Ex-Spieler mit besserem Verständnis für den Fussball als VAR beizuziehen? Der Verband hat vor drei Jahren ein knappes Dutzend Ex-Nati-Spieler zusammengezogen und ihnen die Möglichkeit einer Ausbildung per Schnellbleiche geboten, denn die FIFA lässt keine VAR ohne Diplom zu. Resultat: Keiner meldete sich wieder, zu unattraktiv ist das Angebot, vor allem finanziell. Dabei wäre die Vorstellung eines Taulant Xhaka an den VAR-Schalthebeln bei einem FCZ-Spiel gewiss interessant – die folgenden Diskussionen ebenso.
Was aber ist mit Ex-Schiedsrichtern? Würden nicht gerade sie die ideale Kombination mitbringen aus Kenntnis der Regeln und nötiger Distanz? Ihre Rolle als Airbag eben besser wahrnehmen und nicht das Gefühl haben, sie müssten es besser können als der Kollege auf dem Feld? In der Anfangszeit des VAR gab es – auch aus Personalnot – diese Variante tatsächlich. Die erst kürzlich zurückgetretenen Alain Bieri, Stephan Klossner und Sascha Kever sassen hinter dem VAR-Bildschirm, Fehler unterliefen auch ihnen. Der SFV zeigt sich weiter offen für diesen Weg, das Interesse bei Ex-Schiris, für 750 Franken nach Volketswil zu fahren, hält sich jedoch in Grenzen. Mögliche Kandidaten wie Adrien Jacottet, Bruno Grossen, Stephan Klossner oder Stephan Erlachner haben unterdessen eine andere Rolle. Sie lassen sich als Experte bei Blue zuschalten. Die Gage beim Fernsehen dürfte ähnlich hoch sein, der Druck ist aber quasi nicht vorhanden – und der Znacht wartet gleich nach Schlusspfiff.
Klarer Fehler? Von wegen!
Wir wissen es alle: Der Videoschiedsrichter darf und soll dann eingreifen, wenn ein klarer und offensichtlicher Fehlentscheid vorliegt. Das Problem ist nur: «Klar und offensichtlich» wird offenbar viel weiter ausgelegt als im gängigen Sprachgebrauch. Der VAR meldet sich auch mal bei Situationen, die unter Zuschauern vor dem Fernseher, ja selbst unter Schiedsrichtern umstritten sind.
Grund dafür ist das Bedürfnis nach einer permanenten Schwarz-Weiss-Logik. Anfang Saison erhalten die Schweizer Schiedsrichter eine grosse Anzahl an Videoclips von der UEFA mit entsprechender Auslegung der bestehenden Regeln. Für jeden dieser Fälle hat die Kommission nach interner Beratung festgelegt, ob das Foul oder Hands geahndet werden muss oder nicht. Bei einem Vergehen auf dem Platz müssen die Schiedsrichter dann beurteilen, ob dieses etwa der UEFA-Szene B27 oder B28 entspricht und danach entscheiden. Doch keine Szene ist wie die andere: Die Intensität eines Stossens variiert zum Beispiel, oder der Arm schwingt ein wenig anders.
Die strittigen Fälle – es können auch neue «Trends» sein wie das Foul von Lukas Görtler, der nach einer Flanke mit dem ausschwingenden Fuss seinen Gegenspieler traf und dafür vom Platz flog – werden hierzulande an wöchentlichen Meetings besprochen. Dort legt ein Gremium fest, wie solche Szenen künftig gehandhabt werden sollen. Dabei kann es vorkommen, dass nur eine knappe Mehrheit dafür ist, eine Szene fortan mit Rot oder Foul zu ahnden. Was da entschieden wird, gilt. Wenn also danach ein VAR bei einem Vergehen dieser Art eingreift, dann heisst das nicht zwingend, dass alle Schiedsrichter beim SFV oder bei der UEFA dieses gleich interpretiert hätten. Trotzdem gilt die Szene als «klar und offensichtlich». Dani Wermelinger erkennt die Problematik. Man habe das kürzlich besprochen und sei zum Schluss gekommen, dass solche Fälle eben gerade nicht VAR-würdig seien. Für nächste Saison ruft er die Devise aus: «Ihr müsst 50 Schiris fragen, und 50 müssten sagen: Nein, das ist kein Penalty. Erst dann könnt ihr als VAR intervenieren. Das muss in den Köpfen drin sein.»
Dass die Schweizer VARs überhaupt so oft eingreifen, überrascht. Denn sie müssen im Vergleich zum Ausland mit wenigen Kameras auskommen. Je nach Übertragungsanstalt sind es sechs (Cinetrade) oder neun (SRG). Weniger Einstellungen machen die Abläufe schneller – ein Bereich, wo die Schweiz im internationalen Vergleich offenbar gut dasteht –, aber das führt auch zu Komplikationen: Nicht überall im Stadion sind die Kameras in gleicher Weise aufgestellt. So ist zum Beispiel in der Regel hinter dem einen Tor eine Kamera hoch positioniert – mit Blick über die Torlatte –, während hinter dem anderen eine mobile Handkamera auf tiefer Position steht. Was nach einem Detail klingt, kann spielentscheidend sein: 2020 durfte Guillaume Hoarau seinen Penalty in der Nachspielzeit des Spitzenspiels gegen St. Gallen wiederholen, weil Goalie Zigi vor der Linie stand – und YB zum 3:3 ausgleichen. Im anderen Tor wäre Zigis Übertreten nicht von der Kamera erfasst worden. Auf nächste Saison hin sollen die Kamerapositionen stärker vereinheitlicht werden, wie die Liga auf Anfrage bekannt gibt.
Funkstille nach Fehlern
Immer wieder kommt die Frage auf: Warum geht es nach heiklen Entscheiden bloss so lange, bis man von den Schiedsrichtern und ihren Chefs etwas hört? Der Schiedsrichter tritt nur selten vor die TV-Kamera, und eine Erklärung folgt häufig erst am Dienstag, wenn medial von Urs Meier und der gesamten Podcast-Gilde alle Szenen besprochen worden sind.
Der Verdacht liegt auf der Hand: Weil sämtliche Kommunikation über VR-Chef Wermelinger läuft, der das nur nebenbei macht, verlangsamt sich alles. Dieser verneint. Er sei an einem Montag über Mittag oder an einem Sonntagabend durchaus erreichbar. «Es liegt an den internen Prozessen. Wir müssen bei einer kritischen Situation zuerst herausfinden, was der richtige Entscheid gewesen wäre. Da haben wir manchmal Diskussionen.» Das Fachgremium arbeitet am Montagmittag die «critical scenes» auf – in «superdringenden Fällen» auch früher. Es zieht auch die Meinung eines Fachteams und von internationalen Observern bei. Dann informiert Wermelinger erst den betroffenen Schiedsrichter und dessen Team. «Bei uns gilt: intern vor extern. Wir wollen nicht, dass die Schiris unsere Beurteilung aus der Zeitung erfahren.» Erst dann werden Medienanfragen beantwortet, zum Teil seien es bis zu 20. Was die Interviews nach Spielschluss anbelangt, hiess es an der Bilanzkonferenz der Schiedsrichter, man würde durchaus mehr zur Verfügung stehen, aber es kämen häufig einfach keine Fragen. Es gibt jedoch Fälle, bei denen Schiedsrichter im Eifer des Gefechts ein Interview absagen. Die Begründung: Diese Möglichkeit hätten die Spieler schliesslich auch.
Verbessert werden soll künftig die Kommunikation in den Stadien. Fans vor Ort bekommen derzeit herzlich wenig davon mit, was und warum entschieden wird. In Norwegen wird der VAR-Screen auf die Stadionleinwand projiziert und der Entscheid deutlich kommuniziert. In Österreich werden auf einer Website sämtliche VAR-Entscheide nach einem Spieltag erklärt. Für Ersteres fehlt es in der Schweiz an der Infrastruktur, für Letzteres an den Mitteln.