Vollzeithobby

Der Amateurfussball in der Schweiz boomt wie kaum je. Für die Vereine bedeutet das einen enormen Aufwand. Hängen bleibt das oft am Juniorenobmann – wie Emanuel Willi.

Ein Artikel aus ZWÖLF #106 (Januar/Februar 2025)

Text: Raphael Rehmann

Wer derzeit an einem Fussballplatz vorbeikommt, darf sich nicht täuschen lassen. Jahreszeitbedingt sind die Felder meist leer. Doch der Ansturm auf die Vereine ist enorm. In Basel gibt es einen Aufnahmestopp, Wartelisten auch im Appenzellerland, in Bern oder der Zentralschweiz.

Vor der Pandemie zählte der Innerschweizer Fussballverband 11 000 Lizenzierte. Im laufenden Jahr sind es fast 14 000. Der Anstieg wird zwar relativiert durch die Tatsache, dass neu auch die Jüngsten eine Lizenz brauchen. Doch der Trend ist eindeutig. Fieberhaft suchen Vereine nach zusätzlichen Plätzen oder Trainern, um alle Juniorinnen und Junioren unterzubringen. Gerade bei den Mädchen rechnen die Klubs für den Sommer nach der Frauen-EM mit vielen weiteren Anmeldungen.

All das bewältigen muss der Juniorenobmann. Diesen Posten zu besetzen, ist für Vereine mit Nachwuchsteams Pflicht. Eine Ausbildung wird zwar nicht verlangt – die Regionalverbände und der SFV bieten freiwillige Kurse an –, dennoch gestaltet sich die Personalsuche vielerorts schwierig. Dies bestätigt Emmanuel Willi vom FC Kickers Luzern. Wie die meisten seiner Kollegen zwischen Chur und Genf übt er den Job ehrenamtlich aus. Seit 40 Jahren ist Willi im mittlerweile grössten Verein der Stadt – als Spieler, als Trainer, seit rund 20 Jahren als Juniorenobmann. 2022 hat er mangels Alternativen auch noch die Präsidentschaft übernommen. Wie viel Zeit der Sekundarlehrer nebenbei allein für die Junioren aufwendet, notabene in Fronarbeit, kann er nicht beziffern. Es vergeht jedenfalls kein Tag, ohne dass er sich dafür engagiert. Hier folgt sein Erlebnisbericht.

Emanuel Willi Porträt
Emanuel Willi, Juniorenobmann des FC Kickers Luzern (Bild: Dominik Wunderli)

«Wir sind zum ersten Mal überhaupt an dem Punkt, an dem wir keine neuen Junioren mehr aufnehmen können. 350 haben wir, so viele wie noch nie. Das bringt auch mich an die Grenzen. Normalerweise kenne ich alle im Verein. Momentan nicht. Ich kann nicht jedes Wochenende sechs Spiele schauen. Allein bei den F-, E- und D-Junioren – also bis zu einem Alter von 13 Jahren – haben wir mehr als ein Dutzend Teams. Der Zulauf kommt daher, dass das Tribschen-Quartier, wo wir zu Hause sind, stark gewachsen ist in den letzten Jahren. Aber wir haben auch Kinder, die von ausserhalb der Stadt kommen. Es hat sich herumgesprochen, dass wir nicht einfach ‹tschutten›, sondern Fussball spielen wollen. Insbesondere nach grossen Turnieren erleben wir jeweils ­einen grösseren Ansturm. 

Meine Hauptaufgaben als Junioren­obmann sind: neue Junioren aufzunehmen, die Teams zusammenzustellen und die Trainer zu rekrutieren. Es gibt Vereine, bei denen ist das eine rein administrative Aufgabe. Da macht der Juniorenobmann die Einteilungen und ist danach höchstens noch in dringenden Fällen zuständig. Für mich funktioniert das nicht. Ich bin immer ansprechbar. Und ich will sehen, was ich gemacht habe. Ich will nicht nur das Resultat der Spiele kennen, sondern auch wissen, wie die Teams spielen und wie gecoacht wird. Je besser du die Menschen kennst, desto besser kannst du auf deren Probleme oder Anliegen eingehen.

Als Juniorenobmann bist du zudem mitverantwortlich für die Infrastruktur. Wir haben hier für all unsere Teams sechs Garderoben und zwei Fussballfelder. Im Herbst fragst du dich fast täglich, ob die beiden Naturrasen einem weiteren Training standhalten oder ob wir ausweichen müssen – zum Beispiel auf den nahe gelegenen Kunstrasen unseres Partnervereins oder, im Winter, in die Halle. Dafür tauschen wir uns mit der Stadt aus, die für den Unterhalt der Plätze zuständig ist.

Auch die Besetzung der Trainerposten ist schwierig. Ich finde nicht für jedes Team den perfekten Typ, man muss Konzessionen machen. Ich habe selber eine F-Junioren-Mannschaft übernommen. Ein Team zurückziehen, weil ein Trainer fehlt – das haben wir noch nie gemacht.

Die Aufgabe über die Jahre am stärksten verändert hat die ständige Erreichbarkeit. Die Menschen sind ungeduldiger geworden. Heute muss ich alle Kanäle ständig im Blick haben: E-Mail, Combox, mehrere Teamchats auf Whatsapp. Die Leute erwarten auf alles sofort eine Antwort – und vergessen oft, dass wir alle ehrenamtlich arbeiten.

Ärgerlich sind Eltern, die nur fordern. Das kann so weit gehen, dass sie einem Trainer sagen, auf welcher Position ihr Kind spielen muss, und ihm vorwerfen, er zerstöre sonst dessen Karriere. Bei weniger erfahrenen Trainern passiert das häufiger. Diese kommen dann zu mir, und wir besprechen das Vorgehen gemeinsam.

Training? Ja, nein, vielleicht

2024 war für mich das bislang mühsamste Jahr. Klar, ich werde auch älter, ich bin nun 53. Aber die Erwartungshaltung der Eltern hat in den letzten Jahren massiv zugenommen. Fussball ist nicht mehr nur ein cooles Hobby, sondern ein Projekt für ihr Kind. Gleichzeitig ist alles unverbindlicher geworden. Viele Trainer nutzen fürs Training zum Beispiel eine App, die Eltern tragen da ein, ob ihr Kind teilnimmt oder nicht. Das allein finde ich schon seltsam. Es sollte doch Standard sein, dass man ins Training kommt! Und wenns ausnahmsweise nicht klappt, meldet man sich ab. 

Wir erleben auch Eltern, die schon bei der Anmeldung sagen: ‹Mein Kind kommt nur am Donnerstag ins Training.› Natürlich verstehe ich, wenn Kinder ein Instrument spielen oder einen weiteren Sport betreiben, dass auch mal etwas dazwischenkommen kann. Aber Fussball ist ein Teamsport. Wenn jemand nur jedes zweite Mal anwesend ist und trotzdem am Wochenende spielen will, ist das gegenüber den anderen nicht fair. 

Und dann gibt es Kinder, die grundsätzlich nicht mannschaftstauglich sind. Sie schreien rum, sind aggressiv, ver­weigern Übungen – gerade kürzlich ist so ein Fall wieder eskaliert. Ein Junior hat seinen Trainer grob beleidigt, dieser hat ihn ohne Rücksprache mit dem Verein rausgeschmissen. Das darf er nicht, und dagegen hat sich der Vater gewehrt. Wir haben lange geredet und schliesslich angeboten, das Kind in einer anderen Mannschaft aufzunehmen. Der Vater hatte seinen Sohn aber schon bei einem anderen Verein für Probetrainings angemeldet. Es ging ihm wohl auch darum, dass wir den Trainer zurechtweisen. Solche Fälle kosten viel Zeit und Energie. Ich könnte auch einfach sagen: ‹Dann geh doch, wir haben genügend Junioren.› Aber das ist nicht unsere Philosophie. Wir versuchen immer, Lösungen zu finden. Machtspiele braucht es nicht.

abo

Über die vielen Junioren freuen wir uns natürlich: Wir sind auf eine gewisse Breite bei den Jüngeren angewiesen, um genügend Spieler für die höheren Teams nachziehen zu können. Gleichzeitig wollen wir die Identität des Klubs beibehalten. Wir sind ein Verein für alle, wollen aber trotzdem guten Fussball spielen. Je mehr Junioren wir aufnehmen, desto mehr sind dabei, für die Fussball nicht das Wichtigste ist. Es ist ein Spagat zwischen sportlicher Ambition und sozialem En­gagement. Daran muss ich in der Kommunikation mit Eltern, aber auch mit unseren Trainern immer denken. Da ist Fingerspitzengefühl gefragt. Wir sind schliesslich nicht der FC Luzern, der ein Handbuch des Verbands zücken und einem Coach sagen kann: ‹Du trainierst jetzt so, und sonst kommt der Nächste.›

Bei uns sollen alle spielen können. Das ist einfach gesagt, aber manchmal schwierig umzusetzen. Durch die vielen Junioren und den Mangel an Trainern haben wir vor allem in den älteren Juniorenkategorien eher grössere Teams. Was machst du, wenn du in einem Turnier mit den stärkeren Spielern angefangen hast, knapp führst und in den Final ein­ziehen könntest? Gehst du dann auf Turniersieg und lässt die schwächeren draus­sen? Oder ist es wichtiger, dass wirk­lich alle spielen? Vereinsphilosophie ist, dass alle zum Zug kommen. Aber der Entscheid liegt letztlich beim Trainer und er muss ihn vertreten können. 

Kürzlich gab es in den regionalen Medien einige Aufregung unseretwegen. Eine der B-Junioren-Mannschaften musste eine Partie zwingend gewinnen. Sonst hätte der Abstieg gedroht, und das wäre auch darum schade gewesen, weil die nachrückenden Junioren sehr stark sind. Dass manchmal Spieler aus besseren Teams unten aushelfen, ist gang und gäbe und nicht verboten. Bei uns liefen aber in jenem Match gleich elf von ihnen auf. Das ist nicht fair, und dafür trage auch ich die Verantwortung.

Eine Herausforderung ist auch der Umgang mit den sozialen Medien, zum Beispiel mit der Foto-App Snapchat. Womit ich wirklich Probleme habe, ist, wenn in der Garderobe Fotos gemacht werden. Diese Bilder von halb nackten Jugend­lichen – das braucht es einfach nicht. Grundsätzlich sind darum Handys bei uns in der Kabine unerwünscht. Aber das funktioniert nur zum Teil, schliesslich wollen die Junioren vor und nach dem Spiel Musik hören. Der Trainer ist nur für die Teambesprechung in der Kabine und kann ein Verbot nicht durchsetzen. 

Ohne Dusche nach Hause

Vielleicht ist das auch der Grund, warum praktisch niemand mehr duscht nach den Spielen. Einige sagen, das sei mit der Pandemie gekommen, aber der Trend begann schon vorher. Jugendliche ziehen nach dem Match direkt ihre Strassenkleider an und gehen nach Hause. Wir wollten das Duschen schon obligatorisch machen. Einige Eltern haben protestiert, dass das nicht gehe. Es sei nicht mehr zeitgemäss, gemeinsam zu duschen. Ich finde das aus hygienischer Sicht sehr bedenklich.

Und auch sozial geht etwas verloren. Wer sich nach dem Spiel direkt umzieht, setzt sich nicht mehr hin und trinkt noch etwas. Der Austausch mit den Teamkol­legen fällt weg, es entsteht eine Fitness­center-Atmosphäre: Man kommt, trainiert und geht wieder. Auch die unverbind­lichen Gespräche zwischen Trainern und den auf die Kinder wartenden Eltern werden dadurch seltener – und damit die Möglichkeit, sich besser kennenzulernen.

Dass wir so viele Juniorinnen und Junioren haben und es uns gelingt, ein Gemeinsamkeitsgefühl zu schaffen, ist aber schon grossartig. Die Kinder sind stolz und tragen die rot-schwarz gestreifte Kickers-Mütze auch in der Schule. Auch unsere Events sind immer ein Highlight für mich, zum Beispiel das Lager in Tenero mit 80 Kindern – von den jüngsten bis zu den B-Junioren.

Das Allerschönste ist allerdings, motivierte Leute zu finden, die genauso Freude am Verein haben und sich einsetzen wie ich. Ich habe seit Kurzem einen ehemaligen Junior und langjährigen Trainer, der für mich die Aufgaben des Junioren­obmanns für die F-, E- und D-Junioren übernimmt. Natürlich sind wir nicht immer derselben Meinung, etwa wenn es darum geht, welche Spieler wir für das Zusatztraining in der ‹Löwenschule› des FC Luzern melden. Aber ich habe gelernt, Kompromisse einzugehen und mich auch mal zurückzuhalten, wenn es für die Mehrheit stimmt und vertretbar ist. Und darum geht es doch in einem Verein auch.»