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Abwehrhaltung

Die Spielweise unter Pia Sundhage bietet Anlass zur Kritik. Die Schwedin setzt auf eine massierte Defensive, selbst Offensivpersonal wird nach hinten beordert. Dabei wären in der machbaren Gruppe an der EM vor allem Tore gefragt.

Ein Artikel aus ZWÖLF #109 (Juli/August 2025)

Text: Mämä Sykora

Die Schweizer Frauen-Nati erlebte in den letzten Jahren gleich mehrere Umbrüche und Philosophiewechsel. Erste Endrunden-Erfahrungen machte sie ab 2015 dank Spielerinnen wie Lara Dickenmann, Ramona Bachmann oder Vanessa Bernauer, die Stammplätze bei den besten Klubs Europas hatten. 2018 übernahm der Däne Nils Nielsen, der weniger auf taktische Kniffs setzte und stattdessen den Spielerinnen viel Eigenverantwortung übertrug und ein Wohlfühlklima schuf. Das klappte nur mässig. Denn die arrivierten Kräfte, von denen viel abhing, traten nach und nach zurück oder waren nicht mehr auf dem gleichen Level. Gleichzeitig stieg das Niveau bei der Konkurrenz, wodurch Einzelaktionen weniger Erfolg versprachen. Prompt gelang die Qualifikation für die EM 2022 in der Barrage gegen Tschechien erst im Penaltyschiessen, und an der Endrunde resultierte der letzte Gruppenplatz.

Es übernahm Inka Grings. Sie bevorzugte physisch starke und routinierte Spielerinnen – zwischenzeitlich lag der Altersschnitt der Startelf bei fast 30 Jahren –, liess sie im klassischen 4-4-2 auflaufen und erreichte in 14 Partien lediglich einen Sieg (gegen die Philippinen). Beim Verband – und im Team – schrillten angesichts der bevorstehenden Heim-EM die Alarmglocken. Im Oktober 2023 wurde Grings abgesetzt und Pia Sundhage installiert, eine Trainerin von Weltruhm.

Sundhages erste Ernstkämpfe standen in der EM-Qualifikation an. Für die Schweizerinnen blieb diese auch als Gastgeberinnen des Turniers relevant, denn der Gruppensieg würde den Wiederaufstieg in die A-Gruppe der Nations League bedeuten. Diese Aufgabe ging die Schwedin im 4-4-2 ihrer Vorgängerin an. Der Kader wurde merklich verjüngt, viele Neulinge bekamen ihre Chance. Doch spielerisch war Sundhage vermutlich wenig beeindruckt: Gegen bescheidene Widersacherinnen (Ungarn, Türkei, Aserbaidschan) gelangen insgesamt 14 Tore, doch kaum welche waren herausgespielt. Zwei fielen per Elfmeter, zwei nach Goaliefehlern, gleich die Hälfte wurde per Kopf erzielt, meist nach Standards – ein Punkt, bei dem Sundhage als Erstes ansetzte, im Wissen darum, dass schwächere Frauenteams in Luftduellen oft grosse Defizite aufweisen.

Dass mit dieser Nati eher kein dominantes, ballbesitzorientiertes Spiel möglich sein würde wie mit ihren früheren Teams Schweden, USA oder Brasilien, dürfte Sundhage spätestens nach dieser Kampagne ­bewusst geworden sein. Und als es dann beim Test im November 2024 gegen Deutschland ein 0:6 absetzte, sagte sie – wohl auch im Hinblick darauf, dass nun keine infe­rioren Gegnerinnen wie in der EM-Quali mehr warteten: «Wir müssen besser verteidigen. Und dieses Team will es lernen.»

Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits auf ein 5-3-2 umgestellt. Die ersten Versuche waren schliesslich erfolgversprechend verlaufen: Die Freundschaftspartien auf heimischem Boden gegen Australien und Frankreich (das indes ohne diverse Stammkräfte antrat) endeten 1:1 und 2:1. Seither hat das System Bestand. Allerdings blieben in der darauffolgenden Nations League die Resultate aus, es gelang kein einziger Sieg. Auch die Spielweise wurde bemängelt. Ex-Internationale von Rachel Rinast über Vanessa Bernauer bis Rahel Kiwic kritisierten öffentlich die defensive Ausrichtung, den fehlenden Mut und die Schwierig­keiten beim Kreieren von Torchancen.

Hier lohnt sich ein Vergleich mit der Männer-Nati: Sie operiert ebenfalls gerne mit einer Fünferkette. Doch ihre Aussenpositionen sind von offensiv ausgerichteten Akteuren besetzt – an der letzten EM etwa von Michel Aebischer und Dan Ndoye, die höchstens im Spiel gegen den Ball zu Verteidigern werden. Sundhage lässt hingegen mit einem sehr tiefen Block antreten. Oft sind sämtliche Spielerinnen in der eigenen Hälfte, die Linien bleiben eng beisammen und die Fünferkette meist ­bestehen. So kann eine Verteidigerin in ­einen Zweikampf gehen, ohne gleich eine grosse Lücke zu hinterlassen, sollte sie ihn ver­lieren. Auch gegen schnelle gegnerische Flügel ist man so gewappnet. Für dieses tun sich kaum Räume auf, in die sie vorstossen können – nicht einmal, wenn sie sich zuvor in einem Eins-gegen-eins durchgesetzt haben. Und was Sundhage als Hauptgrund nennt: «Wir spielen im 5-3-2, um Flanken zu verhindern.»

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Bleibt Pia Sundhage ihrer Linie treu, könnte die Aufstellung an der EM so aussehen. Im 5-3-2 haben die eigentlich offensiv ausgerichteten Aussen Crnogorcevic und Beney vor allem gegen hinten zu arbeiten. Vorne bleiben die Flanken verwaist – auch weil gute Kopfballspielerinnen fehlen. Nach Ball­eroberungen sucht man gerne mit langen Pässen den Erfolg – oder hofft auf eine Einzelaktion von Schertenleib.

 Im Mittelfeld setzte die Trainerin fast immer auf Lia Wälti auf der Sechs sowie Smilla Vallotto und Géraldine Reuteler als Achter. Im Idealfall sind sie es, die einen Ball in der dicht besetzten Zone vor dem Strafraum erobern, sich mit einem kurzen Pass befreien und dann mit einem weiten Zuspiel – bevorzugt diagonal in die gegenüberliegende Zone – den Gegenangriff lancieren. Tatsächlich hat kein Team in der A-Gruppe der Nations League mehr hohe Bälle über mindestens 25 Meter ­geschlagen als die Schweizerinnen.

«Safety first», heisst die Devise der Nati. Das missfällt etwa Martina Moser. Der SRF-Expertin und 129-fachen Internationalen ist nur schon die konsequente Fünferkette ein Dorn im Auge: «Das ist ein klares Signal, dass das Toreverhindern an erster Stelle steht. Mehr Möglichkeiten bietet dieses System, wenn hinten auch im Spiel gegen den Ball maximal eine Viererkette gebildet wird, also jeweils nur die ball­entfernte Aussenverteidigerin in die Abwehrlinie rückt.» Das würde auch dem Mittelfeld helfen. Dieses hat die gesamte Breite zu verteidigen, doch als Dreierkomposition kann es nicht jede Lücke schlies­sen. Exemplarisch zeigte sich das bei der 1:2-Niederlage in Norwegen: Ein Gegentreffer fiel nach einem flachen Pass von hinter der Mittellinie durch das nicht mehr so eng stehende Zentrum der Schweizerinnen. Die Französinnen genossen beim 4:0 oft viel Raum auf den Seiten.

Trotz des dünn besetzten Mittelfelds macht es die Nati den Gegnerinnen nicht einfach, Lösungen zu finden. Das liegt an den tief gestaffelten Ketten. Doch die Teams können sich Zeit lassen. Denn die Schweizerinnen setzen die Ballführende kaum unter Druck. Sie gestehen – das ­zeigen die Daten eindrücklich – von allen Mitgliedern der A-Gruppe der Nations League mit Abstand am meisten Pässe zu im Verhältnis zu Abfangversuchen. PPDA (passes per defensive action) nennt sich dieser Wert. Je tiefer er ist, desto intensiver das Pressing. Die Nati verzeichnete einen vier Mal so hohen Wert wie Spanien, selbst einen doppelt so hohen wie Island oder Norwegen. Sprich: Sie verzichtet fast vollständig auf Pressing.

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Die Nati unter Sundhage verzichtet fast vollständig auf Pressing. Damit ist sie eine Ausnahme im Frauenfussball.

Athletische Defizite

Damit ist die Schweiz eine Ausnahme. Und verhält sich gegensätzlich zur Entwicklung, die auch im Frauenfussball ­rapide voranschreitet. Dort hat sich die Pressinglinie in den letzten Jahren deutlich nach vorne verlagert. Dies zeigt der «Technische Bericht» der UEFA: Wurden an der EM 2017 noch erst vereinzelt Bälle in der gegne­rischen Hälfte erobert, war es bei der folgenden Endrunde bereits eine deutliche Mehrheit, viele davon sogar auf Höhe des gegnerischen Sechzehners. Schon 2022 zählte die Nati zu jenen Teams, die am wenigsten Pressingsituationen aufzogen – ebenso wie die EM-Gruppengegner Norwegen und Finnland.

Dass der gegnerische Aufbau mittlerweile früher gestört wird, hat gute Gründe. Bei den Frauen ist das Pressing mit geringerem Risiko verbunden als bei den Männern. Es gibt nur wenige Verteidigerinnen, die einen weiten Ball in den Rücken der aufgerückten Gegnerinnen spielen können, sodass es gleich vor dem anderen Tor gefährlich würde. Wird die erste Linie hingegen umspielt, bleibt mehr Zeit als bei den Herren, um den Ball erneut zu attackieren.

Um aber überhaupt ein Pressing aufziehen zu können, benötigt es Spiele­rinnen, die schnell hervorpreschen, um die Ballführende wirklich in Bedrängnis zu bringen. Dafür braucht es die entsprechenden athletischen Fähigkeiten, und in diesem Bereich hinken die Schweizerinnen im internationalen Vergleich hinterher, gerade was Antrittsschnelligkeit und Tempo anbelangt. An der WM 2023, wo die Nati in den Achtelfinal vorstiess, legten einzig die Vietnamesinnen weniger Distanz per Sprint zurück. Die Topteams liefen fast doppelt so viel in hoher ­Ge­schwindigkeit.

Marisa Wunderlin, einst Assistentin von Nielsen in der Nati und bis zuletzt Trainerin des FC St. Gallen, hat dafür eine Erklärung: «Im Zuge der Professionalisierung ist die Intensität in den obersten ­Ligen merklich gestiegen. Dadurch wurde die Schere zu den Nachwuchsteams noch einmal grösser. Gerade in der Schweiz, hier gibt es in vielen Klubs bis zur U20 keine Athletiktrainer.» Das führe dazu, dass der Sprung in den Erwachsenenfussball in physischer Hinsicht sehr gross sei – ein Mitgrund für die vielen Verletzungen. Die aktuellen Nati-Spielerinnen fielen im Verlauf ihrer Karriere im Schnitt rund zwei (!) Jahre verletzt aus, ein Grossteil hat bereits mindestens einen Kreuzbandriss erlitten. Augenfällig sind die physischen Defizite vor allem in Duellen mit Spitzennationen. Engländerinnen oder Französinnen sind explosiver, schneller und kräftiger, weil sie einerseits schon im Nachwuchs bessere Betreuung geniessen, andererseits früh Profis werden und entsprechend trainieren und regenerieren. Den Unterschied erlebte etwa Sydney Schertenleib nach ihrem Wechsel zu Barcelona: Sie ging als GC-Stammspielerin, vermochte aber anfangs nicht einmal mit dem Nachwuchs körperlich mitzuhalten. 

Erschwerend kommt hinzu, dass von den vielen Legionärinnen in der Nati nur die wenigsten Stammkräfte in ihren Klubs sind (siehe Box). Ihnen fehlt nicht nur der Rhythmus, es dürfte auch nicht eben förderlich fürs Selbstvertrauen sein, nur als Notnagel ran zu dürfen. Dieser Zustand ist nicht neu: Keine Feldspielerin, die in den letzten fünf Jahren aus der Schweiz ins Ausland gewechselt hat, vermochte sich eine wichtige Rolle zu erkämpfen – ­obwohl kaum welche bei Spitzenklubs ­unter Vertrag stehen.

Ändern könnte sich das mit der neuen Generation. Sydney Schertenleib bekommt mittlerweile bei Barcelona regelmässig Einsätze, Naomi Luyet versucht sich fortan bei Hoffenheim, auch für Iman Beney dürfte bald der nächste Schritt erfolgen. Gerade Letztere bringen das Tempo mit, das der Nati bisher abgeht. Allerdings konnten sie das noch kaum zeigen: Luyet fiel lange verletzt aus und wurde von Sundhage wegen ihres Fitnessstands aussortiert (obwohl sie im Playoff-Final ihr Comeback gegeben hatte), Beney agiert in diesem System so weit hinten, dass ihre offensive Stärke, freie Räume zu attackieren, selten zum Zug kommt. Für sie gilt, was im aktuellen Team auf einige Spielerinnen zutrifft: Sie wird nicht auf der Position eingesetzt, wo sie am effizientesten ist. Als in der entscheidenden Nations-League-Partie gegen Norwegen die schnelle Stürmerin Alisha Lehmann nach ihrer Einwechslung die Rechtsver­teidigerin geben musste und Rechtsfuss Beney nach links hinten beordert wurde, fiel es gar SRF-Co-Kommentatorin und Ex-Nationalspielerin Rachel Rinast schwer, die Contenance zu bewahren: «Da sind wir wieder bei dem Punkt: Setzt man die Spielerinnen wirklich gemäss ihren Stärken ein? Ich verstehe tatsächlich manche Ausrichtung nicht, sodass ich gerade einen leichten Groll entwickle.»

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«Ich verstehe tatsächlich manche Ausrichtung nicht, sodass ich gerade einen leichten Groll entwickle.»

Rachel Rinast, SRF-Co-Kommentatorin

Auf falschen Positionen

Die Flügelpositionen, die für Beney und Luyet (und auch für Piubel oder Pilgrim) am passendsten wären, gibt es bei Sundhage nicht. Vallotto ist in ihrem Klub Hammarby die Nummer 10, in der Nati ist sie ein Achter. Wälti ist die einzige Sechs, wodurch sie hauptsächlich mit Absichern beschäftigt ist und ihre Spiel­intelligenz weniger zum Tragen kommt, auch weil es kaum längere Ballbesitz­phasen gibt. Crnogorcevic, gelernte Stürmerin und gute Kopfballspielerin, agiert nach Bedarf hinten links oder rechts, ­wodurch es für Flanken keine Abnehmerinnen im Zentrum gibt. Schertenleib wiederum ist im Klub ein Achter, in Rot-Weiss allerdings zurückhängende oder auch mal alleinige Spitze.

Selbstverständlich macht dies Sundhage nicht aus freien Stücken. Nur Nationalteams mit einer grossen Anzahl an gleichwertigen Akteurinnen können diese so einsetzen, dass alle ihre bevorzugte oder angestammte Position einnehmen können. Dazu gehört die Schweiz (noch) nicht. An einer Medienkonferenz Anfang Juni nach dem grössten Unterschied zu ihren früheren Posten gefragt, antwortete Sundhage: «Die Anzahl Spielerinnen, aus denen die Nationaltrainerin auswählen kann. Bei Schweden oder den USA sind es 50 oder mehr, hier ist das schwieriger.» ­Zudem ist das Gefälle selbst innerhalb des erweiterten Kaders gross, Sundhage muss also Kompromisse eingehen. Sie erachtet offenbar eine fremdplatzierte Spielerin immer noch als besser als deren Alternative, die diesen Posten regelmässig ausfüllt. Und sie scheint überzeugt, den entsprechenden Akteurinnen ihre neue Rolle bis zur EM noch einimpfen zu können. Über Beney etwa, die in ihrem Verein YB kaum je in der eigenen Hälfte anzutreffen ist, sagte Sundhage: «Ich bin stur. Und ich bringe das mit Beney zum Laufen.» Nach der Kader-Bekanntgabe kündigte sie auch an, wer Beneys Backup sein soll: Alisha Lehmann, eine Stürmerin.

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Es war allerdings nicht die Defensive, die in der Nations League Anlass zu Kritik bot. Wenn man die Partien gegen die in allen Belangen überlegenen Französinnen einmal ausklammert, stand sie mehrheitlich solid. Im Spiel gegen vorne war die Abhängigkeit von einem einzigen Namen dagegen augenfällig: Sydney Schertenleib. Die 18-Jährige verfügt über Qualitäten, die sonst keine im Team hat. Sie ist technisch versiert, weiss auch mit dem Rücken zum Tor zu agieren und verfügt über einen guten Abschluss. In der Nati wird sie als Anspielstation im Sturm gebraucht, wo sie Bälle halten, selbst ins Duell steigen oder warten kann, bis die Mitspielerinnen aufgerückt sind. Erst zwölf Länderspiele hat sie auf dem Buckel, ist aber bereits unverzichtbar.

«Schertenleib wird überall anzutreffen sein in der Offensive», denkt Martina Moser. Sie sei auch wichtig, um Freistösse herauszuholen. Sich aber an der gegnerischen Verteidigung aufzureiben, forderte seinen Tribut. «Man muss aufpassen auf sie. Alle vier Tage steht eine EM-Partie an, das kostet viel Kraft.» In ihrem jungen Alter fehle ihr noch die Routine, um stets abschätzen zu können, welche Meter sie dringend machen müsse und wann sie Kräfte schonen könne – eine Eigenschaft, die etwa Lia Wälti auszeichnet.

Noch unklar ist, wer an der Seite von Schertenleib stürmen wird. Sundhage versuchte es mit Seraina Piubel, die indes als Aussenläuferin besser zur Geltung kommt (und überraschenderweise den Cut nicht schaffte) . Iman Beney durfte sich auch mal ganz vorne versuchen, im Sturmzentrum offenbart sie aber noch Defizite in der Physis und im Abschluss. Zuletzt gegen Frankreich rückte Géraldine Reuteler weiter vor, zurückhängend hinter Schertenleib. Diese gibt aber lieber selber die Falsche Neun, schliesslich läuft sie bei Barça im Mittelfeld auf.

Für Martina Moser gibt es zwei Optionen: «Ana Maria Crnogorcevic wie früher im Sturm aufstellen. Oder Svenja Fölmli, eine klassische 9, die mit ihren Läufen Räume aufreisst und den Strafraum besetzt.» Mit dieser Box-Besetzung hapert es nämlich oft. Der tiefe Block macht die Wege nach ganz vorne weit, aus dem Mittelfeld stösst einzig Reuteler manchmal vor. Dabei wird es genau dann gefährlich: In Island besorgte sie das erste Tor nach einem Rush in die Tiefe selber, das zweite bereitete sie aus dem Sechzehner vor.

Nils Nielsen (SUI, Cheftrainer, head coach) bei der Pressekonferenz

Der ehemalige Trainer Nils Nielsen verglich die Nati mit einem Schweizer Armeesackmesser. Sie könne alles einigermassen, aber nichts wirklich gut.

Das Glück ist das Losglück

Vom ehemaligen Trainer Nils Nielsen ist überliefert, dass er die Nati einmal mit einem Schweizer Armeesackmesser verglich. Was er damit meinte: Sie könne alles einigermassen, aber nichts wirklich gut. Eine Weinflasche kriegt man auch mit dem kleinen Korkenzieher des Sack­messers auf, selbst ein dünner Ast lässt sich mit der Mini-Säge halbieren. Doch ein wirklich effizientes Werkzeug fehlt. Die Nati hat es weder im Kollektiv noch in Form von Unterschiedsspielerinnen. Das Gute: Auf die Teams mit den schweren ­Geräten trifft sie an der EM vorerst nicht. 

Der Abstand zu den Spitzenteams nämlich, da sind sich alle Expertinnen einig, hat sich in letzter Zeit vergrössert. Das zeigten die direkten Begegnungen: Gegen Frankreich war das Team chancenlos, Spanien schenkte den Schweizerinnen in drei Duellen 17 Gegentore ein, Deutschland traf sechs Mal. Solche Kaliber warten in der EM-Vorrunde nicht. Von den acht in der Weltrangliste am schlechtesten klassierten Teilnehmerinnen bilden vier die Schweizer Gruppe A. Dass Norwegen und Island keine Über­fliegerinnen sind, legte die Nations Lea­gue offen. Finnland gehört gar nur zur zweiten Stärkeklasse. Und weil die Losfee den Schweizerinnen besonders wohlgesinnt war, trifft die Gruppensiegerin im Viertelfinal vermutlich auf Italien, ebenfalls keines der Teams ausser Reichweite.

Um das erklärte Ziel, das Überstehen der Gruppenphase, zu erreichen, braucht es allerdings mehr als eine massierte ­Abwehr: Siege und dafür Tore. Und die schiesst nur, wer Ball und Spielerinnen in Abschlusspositionen bringt. Das ist sich Sundhage freilich bewusst. Nach dem Abstieg aus der Nations League räumte sie ein: «Wir haben Probleme, in die Box zu kommen.»

Noch bleibt ihr und dem Team etwas Zeit. Marisa Wunderlin, die als Assistentin die Vorbereitung auf die EM 2022 mitmachte, weiss: «In den Wochen vor dem Turnier kann man noch einiges heraus­holen. Es gilt auch, die Spielerinnen von einer Spielweise zu überzeugen, hinter der sie stehen können.» Sie hofft, dass der Wechsel vom reinen Verteidigen auf die aktive Balleroberung an der Endrunde besser gelingen wird, damit agiert und nicht nur reagiert werden kann. «Die Aggressivität gegen den Ball fehlte mir teilweise. Doch ich traue dem Team zu, dass es den Schalter umlegen kann.»

Vor allem in der Offensive erhofft sich Martina Moser eine deutliche Steigerung. «Mir fehlen bis jetzt klare Muster in den Angriffen. Sie werden zu statisch vorgetragen, der Ballführenden fehlen oft Optionen. Man sieht selten sogenannte Gratisläufe: ein Hinterlaufen, ein Entgegenkommen, ein Run in die Tiefe, auch wenn der Ball nicht kommt. Damit beschäftigt man die Defensive und schafft Räume für Mitspielerinnen. Da liegt viel Potenzial brach.» 

Zuletzt sorgte Pia Sundhage mit ihren Aussagen für Hoffnung, dass an der EM nicht (nur) das defensive Bollwerk zu sehen sein werde, das wir aus der Nations League kennen. «Wir haben einen Plan B und C, aber die verstecken wir noch. Wir wollen flexibel sein.» Sie räumte auch die Möglichkeit einer asymmetrischen A­bwehrkette ein, bei der eine Seite offensiver ausgerichtet ist. Nur um gleich nachzuschieben, dass bei einer Führung durchaus wieder auf das 5-3-2 umgestellt werden könnte. Noch ein letztes Testspiel gegen Tschechien bleibt Sundhage, um sich festzulegen. Das Sommermärchen würde auf jeden Fall aufregender, wenn die Protagonistinnen nicht nur mauern, sondern auch gestalten dürften. 

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Mangelnde Spielpraxis

Die Legionärinnen im Nati-Aufgebot für die EM-Vorbereitung haben eines gemeinsam: In dieser Saison sassen sie in ihren Klubs oft auf der Bank – besonders bei den guten. Stammkräfte in der Nati und bei einem Klub, der sich in den Europacup spielte, waren einzig Géraldine Reuteler und Smilla Vallotto. (Angaben nur Ligaspiele, die Meisterschaften in Skandinavien und den USA sind noch nicht beendet)

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