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Das Türkei-Komplott

terimNach der ersten Entrüstung über das Ausscheiden («Die hässlichen Schweizer haben es geschafft, nach Deutschland zu fahren. Sie haben wieder provoziert und für Rangeleien gesorgt», meinte etwa die Tageszeitung «Star») versuchten in der Türkei einige Journalisten, die einzelnen Ereignisse in einen Zusammenhang zu bringen. Und sie stiessen bald auf Alarmierendes. Als zwei Anführer der Schlägereien im Kabinengang wurden die beiden «Geschäftsleute» Ali Kıratlı und Yaşar Aydın ausgemacht. Sie zählen zu den bedeutendsten «Amigos». So wurden früher die Capos der Kurve genannt. Heute bezeichnet der Begriff jene Gruppe im Umfeld der türkischen Vereine, die oft die halbseidenen oder gar kriminellen Geschäfte der Klubs übernehmen. Sie organisieren etwa den Schwarzmarkthandel mit den Tickets und werden nicht selten dafür engagiert, im Stadion Stimmung gegen einen ungeliebten Präsidenten zu machen. «Die Amigo-Fraktionen sind Spielbälle der Vereinspolitik, und da fliesst Geld von verschiedenen Seiten», analysierte Tobias Schächter, Autor des Buches «Süperlig», im «ballesterer.fm».
So traten Kıratlı und Aydın schon 1999 in Erscheinung, als sie nach einem Pokalspiel von Fenerbahçe den damaligen Nationaltorwart Rüstü Reçber verprügelten. Zu den Katakomben hatten sie sich beim Spiel gegen die Schweiz nicht etwa gewaltsam Zutritt verschafft; vielmehr verfügten sie über einen «roten Ausweis» des türkischen Fussballverbandes, der seinen Trägern Zutritt in alle Räume des Stadions ermöglicht. Zu Recht fragte die Zeitung «Sabah»: «Was um Gottes Willen haben diese Personen im Stadion zu suchen?»

Graue Wölfe im Stadion
Eine zufriedenstellende Antwort hatte Verbandsfunktionär Davut Dişli nicht zur Hand. Er bezeichnete die beiden Schläger als «Freunde seit 20 bis 25 Jahren». Aus welchem Grund er ihnen die Pässe ausgestellt hatte, darüber schwieg er beharrlich. Neue Nahrung erhielt die Vermutung, dass die Ausschreitungen geplant waren, dank der Zeitung «Milliyet», die offenlegte, dass am Tag vor dem Spiel im Istanbuler Hotel Conrad eine geheime Sitzung stattgefunden hatte, an der neben Funktionär Dişli und den beiden Schlägern Kıratlı und Aydın auch der stellvertretende Polizeidirektor von Istanbul sowie ein prominenter fünfter Teilnehmer zugegen waren: Nationalcoach Fatih Terim.

Was genau die Herren an jenem Meeting beschlossen haben, ist nicht bekannt. Terim, der seine Anwesenheit erst leugnete und später sagte, er sei «nur für 3 oder 4 Minuten» dabei gewesen, gab zu Protokoll, es seien «einige organisatorische Fragen» zu klären gewesen. Noch am selben Tag sagte Dişli vor Journalisten: «Wir brauchen Tausende von militanten Fans, keine anständigen Zuschauer!» Es wird vermutet, dass für das Spiel gegen die Schweiz bis zu 15 000 Tickets an Personen verschenkt wurde, die nach Ansicht von Dişli diese Anforderungen erfüllen. Dies sollen in erster Linie Leute aus dem Umfeld der Grauen Wölfe gewesen sein, mit deren rechtsextremem Gedankengut sämtliche Teilnehmer an jener Sitzung sympathisieren.

Die Grauen Wölfe – «Bozkurt» ist der türkische Name dafür – wurden 1969 als Jugendorganisation der nationalistischen Partei MHP gegründet, die den Panturkismus vertritt und von einem Territorium träumt, das sich von China bis nach Spanien erstrecken soll. Diese «Jugendorganisation» war nichts anderes als ein brutales Netzwerk in paramilitärischen Trainingscamps ausgebildeter Männer, die die Ziele der Partei ausserhalb des Parlaments mit Gewalt durchzusetzen versuchten. Alleine in der Zeit von 1974 bis zum Militärputsch von 1980 zeichneten sie für 694 Morde verantwortlich. Dennoch wurden nur wenige Graue Wölfe verurteilt. Die meisten wurden aufgrund mangelnder Beweise freigelassen.

Noch heute sympathisieren in der Türkei viele Leute mit den Ideen der Grauen Wölfe, deren grösste Feinde die Kurden und die Juden sind. Das Gros der türkischen Unterwelt steht für ihre Ideen ein. Einer davon ist Mafiaboss Sedat Peker. Peker, schon zuvor  dank Deals mit Regierungsvertretern erstaunlich kurz inhaftiert, wurde 2005 erneut verhaftet und diesmal wegen diverser Vergehen – darunter auch die Gründung einer kriminellen Vereinigung – zu über 14 Jahren Haft verurteilt. (Update November 2015: Peker wurde 2013 zu weiteren 10 Jahren Gefängnis verurteilt, im März 2014 aber bereits wieder entlassen.) In den Anhörungen tönte Peker mehrmals Verbindungen zu hohen Politikern an. Diese wurden jedoch nicht weiter untersucht. Immerhin für eine Verbindung lieferte die Zeitung «Vatan» Belege. Sie druckte von der Polizei abgehörte Telefongespräche zwischen Mafiaboss Peker und dem TFF-Offiziellen Davut Dişli ab, in denen Dişli seinen Gesprächspartner  jeweils mit «mein Boss» ansprach: «Niemals, niemals würde ich etwas Falsches machen! Ich würde für dich mein Leben opfern. Nichts kann unsere Freundschaft kaputt machen. Du bist mein Boss, und so bleibt es bis in die Ewigkeit. Bitte verstehe das richtig: Ich bin dein Opfer. Ich bin gerne dein Opfer!» Auch die beiden Kabinengang-Schläger Kıratlı und Aydın gehören zu Pekers Umfeld.

Nachdem in der Folge ein weiteres aufgezeichnetes Telefonat aufgetaucht war, in dem Haluk Ulusoy, von 1997 bis 2004 Präsident des türkischen Fussballverbandes, Dişli darum bat, bei Mafiaboss Peker ein gutes Wort einzulegen, damit er wieder Präsident werden könne, trat Dişli endlich zurück. Freilich nicht ohne zuvor stets behauptet zu haben, die Vorwürfe seien frei erfunden. Beunruhigend war vor allem die Tatsache, dass anscheinend ein inhaftierter Mafiaboss grossen Einfluss auf die Wahl zu haben schien. Ulusoy wurde nämlich tatsächlich gewählt.

Die Mafia spielt mit – im Fussball und im Staat
Pekers Verbindungen zum türkischen Fussball waren schon vor seiner Verhaftung bekannt. Im Zuge seiner Verhaftung sorgten Tonbandaufnahmen dafür, dass Beşiktaş Istanbul ins Zentrum des Manipulationsskandals von 2003/04 gerückt wurde. Für Aufsehen sorgten Aussagen eines ehemaligen Trainers, wonach «90 Prozent aller Vereine mit Wissen von Verbandsfunktionären in mafiöse Machenschaften verstrickt» seien. Dass die Unterwelt gerne die Nähe von Fussballvereinen suchte, mag angesichts der Tatsache, dass bis vor wenigen Jahren deren Funktionäre unter dem Schutz der Immunität reisen durften, wenig erstaunen. Dank diesem Gesetz gelang dem berüchtigsten aller Mafiapaten, Alaattin Çakıcı, auch er einer der Grauen Wölfe und Auftraggeber von über 40 Morden, mithilfe von Beşiktaş-Funktionären die Flucht ins Ausland.

Sehr gute Freunde: Mehmet Ağar und Fatih Terim

Für diese Verflechtung von Politik, Justiz, Verwaltung und organisiertem Verbrechen haben die Türken einen eigenen Ausdruck: derin devlet, zu Deutsch: «tiefer Staat». Und kaum jemand verkörpert diese Verflechtungen besser als Mehmet Ağar, ein rechtsnationaler Politiker, Fan von Galatasaray und seit vielen Jahren guter Freund von Fatih Terim. Ağar war Chef der sogenannten Kontraguerilla, des türkischen Arms von Gladio, einer paramilitärischen Geheimorganisation der NATO. Für diese Aufgabe sicherte er sich die Dienste vieler Aktivisten der Grauen Wölfe und ging mit äusserster Härte gegen Linke und Oppositionelle vor. Unter Ministerpräsidentin Tansu Çiller stieg er gar zum Direktor der türkischen Sicherheit auf und formierte sogleich eine Spezialeinheit, die als «Todesschwadronen» einen blutigen Kampf gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ausfocht.

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