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Istanbul-Reportage

Amour fou

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Kaum irgendwo durchdringt der Fussball die Gesellschaft so stark wie in der Türkei. Er bringt Städte zum Stillstand und Menschen um den Verstand. Mittendrin: eine Reihe Altstars, eine Handvoll Schweizer und Präsident Erdoğan. Die Reportage aus ZWÖLF #64 (Januar 2018).

Text: Silvan Kämpfen, Mämä Sykora
Fotos: Kerem Uzel

Şampiyon! In der türkischen Sprache schwingt stets ein rauer Moll-Ton mit. Und wenn sich nun auch die Gruppe Mitdreissiger am schön weiss gedeckten Nebentisch nicht mehr ihren Fischplatten hingibt, sondern sich dazu anschickt, ihre ohnehin voluminösen Stimmen noch weiter zu erheben, um laute Şampiyon-Wünsche durch die heillos überfüllten Gassen des Beşiktaş-Quartiers zu schmettern, dann wird den Ortsfremden klar: Fussball ist hier nicht einfach nur ein Spiel. 2:0 liegen die schwarz-weissen Adler im Derby gegen Galatasaray vorne.

Die Bildschirme, die an jedem erdenklichen 90-Grad-Winkel dieser Gegend montiert sind, zeigen das Publikum im 800 Meter entfernten und randvollen Heimstadion. Die Schlussviertelstunde ist angebrochen, auch die Menschen auf der Haupttribüne stehen nicht mehr – das haben sie schon das ganze Spiel über getan –, nun hüpfen sie. Unzählige Kontergelegenheiten hat Beşiktaş bereits ausgelassen, bevor der eingewechselte Negredo Gala-Goalie Muslera umkurvt und das 3:0 erzielt. In einem Istanbul-Derby bedeutet jedes Tor noch mehr als das vorherige.

In den offenen Lokalen – viele verlangten umgerechnet 20 Franken Eintritt – erreicht das Delirium den nächsten Höhepunkt. Die Strassen versinken im Taumel dieser lauen Dezembernacht, die sich in Gesellschaft dieser Tausenden warmen, dunklen Stimmen und der brennenden Pyros fast schon hitzig anfühlt. Am Nebentisch intonieren – die Wörter «singen» oder gar «trällern» haben hier keine Berechtigung – sie ein Lied über den langzeitverletzten Demba Ba.

Neben dem noch geöffneten Fanstore und der grossen Statue mit dem Adler, dem Wappentier von Beşiktaş, fuchtelt einer wild um sich. Wir sollten aufpassen, der habe wohl ein Messer, lässt man uns wissen. Es braucht mehrere Zivilcouragierte, um ihn in Gewahrsam zu prügeln. Die Menge, unter ihr auffallend viele junge Frauen, nimmt leicht Abstand. Es ist für kurze Zeit der einzige freie Raum. Bald schliesst er sich wieder. Wer hier ein Ziel hat, ist verloren. Ein Durchkommen gibt es nur für die Musiker, die mit Pauke und Zurna – jener landestypischen, für schnarrende Klänge sorgenden röte – umherziehen. Es fühlt sich an, als wären sämtliche Schweizer Stadtfeste auf ein Quartier komprimiert worden.

Wochenende für Wochenende legt der Fussball in der 15-Millionen-Metropole ganze Stadtteile lahm. Von der Anzahl Fans ist Beşiktaş die Nummer 3 in der Stadt, bei Fenerbahçe- und Galatasaray-Partien ist nicht weniger los. «So etwas wie hier habe ich noch nie erlebt», sagte der kürzlich im Sommer zu Beşiktaş gewechselte Pepe. Tatsächlich relativiert ein Spieltag am Bosporus alles, was Spieler und Fans aus dem restlichen Europa über ihre Klubs erzählen.

Wo sich Beşiktaş-Fans versammeln, wird es laut. Nach Siegen um die Statue des Wappentiers (Bild Mitte), im Stadion sowieso. Sie halten den Lautstärkenweltrekord mit 141 Dezibel – mehr als ein startender Düsenjet.
Wo sich Beşiktaş-Fans versammeln, wird es laut. Nach Siegen im gleichnamigen Quartier um die Statue des Wappentiers, im Stadion sowieso..

Mag sein, dass auch Schalker, Neapolitaner oder Liverpooler für ihren Klub leben, ein solch massenartiger Fanatismus ist dort gleichwohl nicht zu finden. Um ein Uhr morgens diskutieren sie im Fernsehen noch über Schiedsrichterentscheide. Der Angestellte der Hotelbar bemüht sich derweil im Aufzählen von Schweizer Klubs. Er kommt immerhin auf sechs. Und gesteht, dass er weinen musste, als der Schweiz-Türke Kerim Frei sein Beşiktaş verliess. Man nimmt es ihm ab.

Der Fanatismus der Türken – oder zumindest die Folge davon – ist auch der Grund für den Wechsel all der Altstars von Adebayor über van Persie bis Eto’o hierher. Ein beträchtlicher Teil der 80 Millionen Einwohner – die Türkei ist damit der bevölkerungsreichste UEFA-Staat hinter Russland und Deutschland – löst ein Pay-TV-Abo für 20 Franken pro Monat. Dazu kommen die vielen Auslandtürken. Und auch der Billettverkauf spült den grossen Klubs Millionen in die Kasse. Ein gewöhnlicher Fener-Match kostet auf der Haupttribüne über 50 Franken.

Den Lohn gibts quasi steuerfrei

Zudem lockt eine attraktive Steuerpolitik die Stars. KPMG hat vorgerechnet, dass ein Süper-Lig-Klub für ein Nettosalär von 3 Million Euro lediglich 3,5 Millionen bezahlen muss, wogegen derselbe Nettolohn einen Premier-League-Verein bereits 5,5 und einen Ligue-1-Klub gar 7 Millionen kostet. Dies führt dazu, dass Fenerbahçe einem Spieler ohne Weiteres denselben Nettolohn offerieren könnte wie Paris St-Germain.

Auch einige Schweizer stellten sich unter den türkischen Geldregen, allen voran Johan Djourou, Gökhan Inler oder Eren Derdiyok. Letzterem begegnet man schon beim Hinflug mit einer türkischen Linie. Nebst Blockbustern kann man sich auch die schönsten «Göller» der letzten Saison anschauen. Der Countdown endet mit einem wuchtigen Fallrückzieher des Baslers. Dem Tor des Jahres.

Derdiyok kommt laut dem Journalisten Uğur Karakullukçu auf einen Jahreslohn von 2,1 Millionen Franken, selbst in der Süper Lig eine Menge Geld. Doch Derdiyok habe Mühe in einem dominant auftretenden Team wie Galatasaray. Bafétimbi Gomis ist die klare Nummer eins im Sturm. Derdiyok kommt nicht über die Reservistenrolle hinaus, auch im Derby sitzt er 90 Minuten auf der Bank. Wohl auch deshalb will er kein Vor-Ort-Gespräch mit ZWÖLF führen.

Andere Schweizer wiederum sind begeistert von ihrem Istanbul-Abenteuer. Der kürzlich in Luzern eingebürgerte Markus Neumayr steht seit Sommer in Diensten von Kasımpaşa. «Wenn wir gegen Galatasaray oder Fenerbahçe spielen, sind das Welten im Vergleich zur Super League. Genau deshalb bin ich hierhergekommen, um so etwas einmal zu erleben.»

Nach seinem Freistosstor gegen Beşiktaş im Herbst kannte ihn das ganze Land. Und natürlich spielt auch im Fall des 31-jährigen Familienvaters das Finanzielle eine Rolle. Er verdient hier drei Mal mehr als in Luzern, wohnt in einem Aussenquartier der gehobenen Klasse.

Nicht jedermanns Sache

Dabei gäbe es durchaus Gründe, diesem Land fernzubleiben, das Recep Tayyip Erdoğan in einen islamischen Ein-Mann-Staat umfunktionieren will, was er in vielen Teilen schon getan hat. Mario Gomez etwa hatte nach dem Putschversuch im Juli 2016 – ob echt oder inszeniert, daran scheiden sich die Geister – genug und verabschiedete sich just deshalb von Beşiktaş. Die Touristen aus dem europäischen Raum denken offenbar ähnlich und bleiben aus. ZWÖLF konnte sich somit ein gediegenes Viersternehotel direkt am Taksim-Platz leisten, das Zimmer kostet 30 Franken pro Nacht.

Sicherheitschecks allerorts weisen auf die erhöhte Terrorgefahr hin. Erdoğan ist unter den Türken ein Tabuthema und gerade deshalb doch allgegenwärtig. Auskunftspersonen vermeiden es, seinen Namen öffentlich – etwa in einem Taxi – auszusprechen. Es habe schon Vorfälle gegeben, wo der Chauffeur dann direkt den nächsten Polizeiposten angesteuert habe. Die Akteure aus dem Paralleluniversum Fussball scheint dies wenig zu kümmern – jedenfalls zu wenig, wenn sie sich den finanziellen Trade-off vor Augen halten. Dabei greift die Politik hier durchaus auf den Sport über.

Dies wird besonders beim studentisch-alternativ geprägten Beşiktaş ersichtlich. «Die Fans stehen voll hinter der Linie eines modernen, westlich-säkularen Staates», erklärt Ekrem Öztürk vom Beşiktaş-Fanclub im zürcherischen Uster, dessen 15 Mitglieder sich jede Woche zum Public Viewing treffen und manchmal auch zu den Partien reisen. Nach wie vor kommt es im Vodafone Park zu Protesten gegen die Regierung, die Fans um ihre Hauptgruppe Çarşı sind aber vorsichtiger geworden. Repressalien nehmen zu.

Erdoğan hat auch schon versucht, die Fanszene mit ihm hörigen oder zumindest dezidiert apolitischen Gruppen zu infiltrieren. «Zum Glück hat so etwas keinen Erfolg», betont Öztürk. Es ist aber auch nicht so, dass nationalistische Parolen und Symbole in den Stadien ausbleiben würden. Beim Besuch des Fenerbahçe-Spiels etwa fällt auf, wie während der Landeshymne mindestens ein Dutzend auf der Tribüne ungehindert die Hand zum Gruss der rechtsextremen Grauen Wölfe erhebt.

Nach einer Reihe von Vorfällen wurden 2011 die Gästefans von den Derbys ausgeschlossen. Seit 2016 sind sie wieder zugelassen, werden aber direkt ins Stadion gekarrt.

Seit drei Jahren werden die türkischen Stadiongänger genau überwacht und registriert – kraft des vor drei Jahren wegen Ausschreitungen eingeführten Passolig-Systems. Ausnahmslos jeder Stadionbesucher, also auch Touristen, muss ein aufwendiges Registrationsprozedere durchlaufen und der Firma von Erdoğans Schwiegersohn 10 Franken jährlich überweisen, um diesen Fanpass nutzen zu können. Nur so findet man Einlass durch die Stadiontore, wo das Konterfei jedes Karteninhabers auf einem Screen gezeigt und vom Sicherheitsbeamten mit dem Besucher verglichen wird.

Dieses Überwachungssystem – gepaart mit den hohen Ticketpreisen – hat sich auf die Zusammenstellung der Klientel in den Stadien ausgewirkt. Auch bei Fenerbahçe werden mittlerweile Selfies geknipst, auf dem Handy schaut einer in der Pause einen ManCity-Stream. Immerhin einige Familien sind anwesend.

Wie am Tag zuvor bei Beşiktaş geht aber auch auf der asiatischen Seite im Kadıköy nichts mehr, wenn Fenerbahçe auf den unbedeutenden Stadtrivalen Kasımpaşa trifft. Busse versuchen sich vergeblich an improvisierten Essständen und offiziösen Trikotverkäufern vorbeizuschlängeln. Eisengatter versuchen die Massen in Bahnen zu lenken. Aber kaum geht irgendwo ein Spalt auf, drücken sich unzählbare Leiber dagegen. Je näher der Anpfiff rückt, desto grösser die Ungeduld. Dazu begleitet einen überall dieser ständig hohe Lärmpegel, unterstützt durch übersteuerte Lautsprecher. Auch sie ertragen den türkischen Synthie-Pop offenbar nicht bedingungslos.

Zur Pause geht die Membran der Stadionboxen kaputt und gibt minutenlang ein selbst für einheimische Ohren nervtötendes Summen von sich. Den grossen Fussball verpasst man deswegen nicht. Das abstiegsbedrohte Kasımpaşa igelt sich ein, der Favorit drückt ohne Ideen und Präzision. Tore fallen nach erschreckenden Abwehrfehlern auf beiden Seiten. Das letzte zum 4:2-Endstand für den Heimklub erzielt der Kasımpaşa-Ghanaer Mensah nach einem Solo durch die gesamte Heimmannschaft direkt vom Anspiel aus. Das Publikum nimmt es schweigend zur Kenntnis. Gegentore schmerzen nur gegen die beiden anderen Stadtgiganten.

Es regiert einzig das Chaos

Fenerbahçe und Galatasaray gehören zu den 30 reichsten Klubs der Welt. Weil sie aber ausschliesslich durch das Chaos regiert werden, schneiden sie im internationalen Vergleich verheerend schlecht ab. Im Sommer 2017 scheiterten sie in der Europa-League-Qualifikation am mazedonischen Vertreter von Vardar Skopje respektive am schwedischen Östersund. Als einer der wenigen ist sich Journalist Karakullukçu nicht zu scheu, die profunden Probleme konkret zu benennen. Der jugendlich wirkende Auslandfussball-Chef der Zeitung «Sabah» wird beim Treffen in einem gigantisch-schillernden Shoppingcenter vom Kellner des überteuerten Italo-Lokals («Hier gibt es gute Tiramisus») um ein Foto gebeten. Sie kennen ihn als Fernsehexperten hier – und gehören womöglich zu seinen 200’000 Twitter-Followern.

«Unsere Klubs werden auf populistische Art und Weise geführt. Jede Transferperiode dient als Bühne für eine grosse Show für die Fans.» Wer als Klubpräsident gewählt werde, erhalte viel Einfluss, auch Zugang zu den wichtigen politischen Entscheidungsträgern. Es gehe dann darum, so viel Geld wie möglich auszugeben, um das Publikum zufriedenzustellen. «Nachhaltig ist dies natürlich nicht», so Karakullukçu, «später lassen sie den Klub einfach fallen und hauen ab.» Johan Djourous Antalyaspor ist ein gutes Beispiel: Der Präsident, welcher im Sommer im südtürkischen Badeort sein Dream-Team um Eto’o, Nasri, Ménez und Sportchef Leonardo zusammengestellt hat, ist inzwischen unter Tränen zurückgetreten. Der Verein kämpft gegen den Abstieg. Insgesamt haben die türkischen Klubs über 2 Milliarden Franken Schulden angehäuft.

Transfers als grosse Show: Michael Frey bei seiner Ankunft am Atatürk-Flughafen. Quelle: Twitter Fenerbahçe SK
Transfers als grosse Show: Michael Frey bei seiner Ankunft am Atatürk-Flughafen. Quelle: Twitter Fenerbahçe SK

Ein lukrativer Markt ist die Türkei für Spielerberater, wie der seit vielen Jahren in der Branche tätige Renato Cedrola freimütig zugibt. Der Ostschweizer hat im Sommer 2017 Markus Neumayr und Franck Etoundi zu Kasımpaşa transferiert. Vor allem für solche Spieler, deren Karriere auf das Ende zugeht oder die es nicht in eine Top-5-Liga schaffen, sieht er die Süper Lig als geeigneten Ort. Vor allem aus finanziellen Gründen, aber auch wegen der Lebensqualität, die eine Stadt wie Istanbul biete. Mit etwas Glück könne man zudem von einem kleinen Klub wie Kasımpaşa den Sprung zu Galatasaray schaffen, wie zuletzt Eren Derdiyok.

Anders sieht es Cedrola bei jüngeren Spielern, die sich weiterentwickeln wollen. Ihnen würde er von einem Wechsel abraten. «In der Türkei gibt es selten eine Klubphilosophie oder eine Spielkultur, alles ist total kurzfristig ausgelegt», sagt er. Scouting gebe es keines, der Nachwuchs werde völlig vernachlässigt, ja sei nahezu inexistent.

Journalist Karakullukçu nippt inzwischen am süssesten Eistee der Welt. Cola gebe es in diesem Lokal nicht, sagt der Kellner, das würden die Italiener schliesslich nicht trinken. Karakullukçu verweist darauf, dass die Infrastruktur zwar ausgezeichnet sei, ein Nachwuchstrainer bei Fenerbahçe aber 750 Franken pro Monat verdiene und erst noch monatelang auf dieses Geld warte, während Robin van Persie, notabene Ersatzspieler, 7 Millionen pro Jahr bekomme. «Den Klubs ist der Nachwuchs egal, und dem Verband fehlt die Geduld dafür.»

Dabei wäre ein übergeordnetes Konzept bitter nötig. Die Türkei scheiterte auch in dieser WM-Qualifikation. Das Spiel der letzten Hoffnung verlor man gegen Island zu Hause sang- und klanglos mit 0:3. Auf globaler Ebene hat man sich zuletzt 2002 messen können. Als Reaktion darauf führte der Verband vor drei Jahren eine Ausländerbeschränkung in der Liga ein.

Das Ergebnis war wenig berauschend: Die wenigen türkischen Talente, im europäischen Vergleich noch immer biederer Durchschnitt, wurden dadurch so begehrt, dass sie sich ihre Dienste mit Premier-League-artigen Verträgen vergolden liessen und nichts mehr für ihre Entwicklung taten. Innerhalb von Teams wie Fenerbahçe entsteht dadurch ein riesiges Gefälle. «Das Problem ist eben nicht mit irgendeiner Regel gelöst, es ist eine Frage der Einstellung», resümiert Karakullukçu.

Begehrte Schweiz-Türken

Mittlerweile wurde die Beschränkung wieder aufgehoben, eine Reaktivierung stehe aber kurz bevor. Mangels eigenen Nachwuchses angelt man eifrig im restlichen Europa nach Talenten mit türkischem Pass. Auch in der Schweiz wurde man fündig. Die ehemaligen Hoppers Levent Gülen und Harun Alpsoy wurden in die Süper Lig gelotst, auch der ehemalige Lausanner Musa Araz läuft hier auf.

Die immense Popularität des Fussballs in Istanbul erklärt sich ohnehin nicht durch grosse internationale Erfolge. Bis in die 90er-Jahre war die Türkei auf der Fussball-Landkarte ein dunkler Fleck. Die Nationalmannschaft hatte sich nur einmal für die WM qualifiziert, die Halbfinal-Qualifikation im Meistercup von Galatasaray 1989 war das einsame Highlight in europäischen Klubwettbewerben. Aber die Türkei ist ein dermassen grosses, heterogenes Land, ein Kosmos für sich, dass sie diesen internationalen Vergleich nie nötig hatte, um die eigene Kultur – Film, Musik oder eben Fussball – hochzuhalten.

Die Rivalität zwischen den drei grossen Istanbuler Klubs, aber auch jenen von Izmir etwa, ist seit je so bedeutend, dass Erfolge auf diesem Niveau vollends genügen, um die Begeisterung der Leute zu wecken. Aufgrund dessen werden heute zwar massenhaft ausländische Spieler verpflichtet, das Know-how jedoch soll in türkischen Händen bleiben. Wobei Know-how hier ein dehnbarer Begriff ist. Türkische Trainer sind oft weit weg von modernen Methoden. Es sei etwa so, wie wenn man einem alten Turnlehrer ein iPad in die Hand drücke, umschreibt es ein Beobachter.

Aleksandr Hleb erzählte, sie seien im Training einfach immer um den Platz gerannt. Und auch Markus Neumayr gibt zu: «Taktisch bestehen da schon gewisse Defizite.» Mit dem Trainer das Gespräch zu suchen, sei schwierig, denn Hierarchien seien in der Türkei sehr starr. Ausländische Startrainer werden zwar bisweilen angestellt, in ihrem Einfluss aber arg beschnitten und bei jeder Gelegenheit angegriffen. Nach der Derbyniederlage forderten die Kommentatoren – standesgemäss und mit Erfolg – den Nationalheiligen Fatih Terim als Galatasaray-Trainer zurück. Unter dem Kroaten Igor Tudor werde Galatasaray die Saison garantiert nicht unter den ersten zwei beenden, schrieb die «Hürriyet». Ungeachtet dessen, dass der Nobelklub auf ebendiesem zweiten Platz lag.

Die Ausnahme in der Agglo

Es gibt jedoch einen Ort, der sich dieser Konzeptlosigkeit wiedersetzt. Der Weg führt weit nach draussen. Nicht, dass irgendein Taxifahrer Istanbuls jemals die Orientierung hätte in dieser Stadt, wo nicht nur Menschen und Musik, sondern vor allem auch Verkehrsachsen pulsieren. Aber die 30-Kilometer-Fahrt zum Tabellenführer der türkischen Liga scheint auch unseren Chauffeur vor Herausforderungen zu stellen.

Wir durchqueren die Agglomeration im Norden Istanbuls, wo die Wohntürme vermutlich im Tagesrhythmus hochgezogen werden – vor allem zur Freude der mächtigen Bauherren und von Ingenieur Erdoğan. Als wir vor dem Başakşehir Fatih Terim Stadı ankommen, lässt der Chauffeur das Wort «Bulgarien» fallen, um noch einmal stolz auf die Länge der zurückgelegten Strecke hinzuweisen. Noch vor der Einfahrt aufs Gelände werden wir von Polizisten gebeten, aus dem Taxi auszusteigen, und ein erstes Mal durchsucht.

Es wird bald einmal klar, dass hier, in Erdoğans konservativen Stammlanden, andere Verhältnisse herrschen als in den lebhaften Innenstadtvierteln, deren Chaos eine gewisse Gemütlichkeit ausstrahlt. Zwischen den schmucklosen Hochhäusern erstrecken sich hier Parkplätze und Brachland. Das einzige Nicht-Fast-Food-Restaurant hier bietet nur ein Menü an, eine herzhafte Suppe. Daneben steht das nagelneue Stadion von Başakşehir. Beim Eröffnungsspiel tat der Staatspräsident höchstpersönlich mit, und die Gegenspieler stellten sich so lange betont dämlich an, bis Erdoğan seinen Hattrick hatte. Darunter war auch ein sauberer Lupfer. In seiner Jugend galt Erdoğan als vielversprechendes Talent. Sein Übername: Imam Beckenbauer.

Eine Stunde vor der Partie gegen Osmanlispor, auch das ein AKP-naher Verein, herrscht hier kaum Betrieb. Zu den auf unserer Passolig-Card gebuchten Tickets kommen wir innert Minuten. Wir suchen das Gespräch mit ein paar der wenigen Fans, sie vertrösten uns auf später. Hier begrüsst man sich nicht Wange an Wange, sondern Stirnseite an Stirnseite. Das Erkennungszeichen der Nationalisten. Die vornehmlich jugendlichen Anhänger tragen Pullover mit der Aufschrift 1453. In diesem Jahr wurde das heutige Istanbul von den Truppen des Osmanischen Reichs erobert. Das Imperium hielt bis 1923 Bestand, als Kemal Atatürk die Republik Türkei ausrief. Viele Nationalisten träumen wieder von einer türkischen Grossmacht.

Ob Hüseyin viel mehr zu erzählen wüsste über die historische Bewandtnis dieser Zahl, versuchen wir nicht herauszufinden. Hüseyin – geschätzte 25 Jahre alt, Typ Schönling – ist der Chef dieser 50-köpfigen Gruppe, die sich nun um uns versammelt hat. Er hat einen seiner Schützlinge vorgeschickt, um den Schweizer Journalisten Bescheid zu geben, dass er jetzt zum Empfang lade. «Basel?», fragt er als Erstes und erzählt dann, dass Gökhan Inler – er ist Anfang Saison hierhergewechselt – der nächste Emre werde. Er versichert: «Wir sind bereits die vierte Kraft in Istanbul. Und dieses Jahr werden wir Şampiyon!»

Dann ruft er uns auf, ihm Richtung Drehkreuze zu folgen. Erst als Hüseyin einen Fächer mit rund 15 Passolig-Karten zückt, wird klar, worauf die Übung hinaussoll. Er spricht mit einem Mann des Stadionpersonals, aktiviert die Drehkreuze gleich mehrfach und winkt die Gäste an allen Sicherheitsleuten vorbei. Ein Vorstadtjunge mit Hang zu nationalistischer Symbolik offenbart die Makulatur eines mühseligen, staatlich orchestrierten Registrations- und Kontrollprozedere, das anscheinend nicht für alle gilt.

Im Stadion des 2014 gegründeten Klubs herrscht eine eigenartige Stimmung. Als die Nationalhymne gespielt wird, stehen alle stramm. Hüseyin treibt sein Gefolge und den Rest des Stadions zu ordentlichem Lärm. Vielleicht 4000 Menschen haben sich eingefunden zu einem Spiel des künftigen Tabellenführers. Doch die Resonanzkörper der Anwesenden scheinen oberhalb des Basses keine Stimmlage zu kennen und transportieren den Tribünenwechselgesang «Başak Gol Gol Gol» mit furchteinflössender Ernsthaftigkeit, wie man sie in der Schweiz auch vor vollen Rängen kaum antrifft.

Hüseyin (ganz rechts) versucht mit seiner Fangruppe, gegen die Tristesse im Stadion von Başakşehir anzukämpfen. Als Spitzenteam hat sich sein Team allerdings bereits etabliert.
Hüseyin (ganz rechts) versucht mit seiner Fangruppe, gegen die Tristesse im Stadion von Başakşehir anzukämpfen. Als Spitzenteam hat sich sein Team bereits etabliert.

Wer nicht mitzieht im eng zusammenstehenden Grüppchen, erntet einen strafenden Blick von Hüseyin. Vom Spiel kriegt er kaum was mit, nur hin und wieder dreht er sich in Richtung Spielfeld, richtet die Haare und stimmt dann den nächsten Gesang für sein Gefolge an. Bis vor Kurzem war er noch Fan von Galatasaray gewesen, sein Kollege mit der Pauke Fenerbahçe-Anhänger.

Niemand in Istanbul nimmt Başakşehir ernst. Immer wieder bekommen wir von Leuten zu hören, sie würden niemanden kennen, der diesen Klub unterstützt. Offensichtlich aber scheint dies der falsche Massstab oder ist sogar einer der Gründe für den Erfolg dieses türkischen Hoffenheim. Anders als die grossen drei mit ihrem spektakulären, von den Emotionen des Publikums getriebenen Hauruck-Fussball versucht man beim Retortenklub das Spiel ruhig von hinten auszulösen und das gegnerische Pressing auszuhebeln, um dann in der Offensive Räume vorzufinden.

Junge Einheimische reifen hier an der Seite von erfahrenen Grössen wie Adebayor, Emre oder Clichy. Inler sitzt auf der Bank, der andere Schweizer, auf dessen Trikot einfach nur «Kerim» steht, müht sich am linken Flügel ab und wird von den Gegnern mit überdurchschnittlicher Härte angegangen.

Berater Cedrola bekräftigt den Eindruck: Dieser Klub sei der einzige mit einem langfristig ausgelegten Konzept und einer Scoutingabteilung. Abdullah Avcı gilt zudem als einer der wenigen türkischen Trainer, die sich der Entwicklung anderer Länder geöffnet haben. Journalist Karakullukçu betont, dass der Erfolg des Klubs nicht mit der Nähe zur AKP zusammenhänge. Auch alle anderen Klubs würden von staatlicher Vorzugsbehandlung profitieren und hätten zudem ein wesentlich grösseres Budget.

Der Journalist fasst es in Anlehnung an Hoffenheim so zusammen: «Es ist zwar Plastik, aber es ist guter Plastik.» Dass der aus dem Boden gestampfte Klub dereinst ebenso die Massen anziehen wird wie die anderen Klubs, glaubt er nicht. Die 80 Millionen Türken hätten ihren lokalen oder Istanbuler Klub bereits gefunden.

Alles nur ein Betriebsunfall

Ein Meistertitel Başakşehirs würde also lediglich als Betriebsunfall taxiert – wie die missliche Lage des türkischen Fussballs im Allgemeinen. Ob sich daran nächstens etwas ändert, bleibt ungewiss. Zwar gibt es Anzeichen, dass die neue Generation von Talenten Erfahrungen in ausländischen Klubs sammeln möchte.

Die Klubs hingegen haben wenig Anreiz, ihren Kurs zu ändern, der vor allem vom Fanatismus der Anhänger getrieben wird. Ihre Sehnsüchte zu stillen, zu enttäuschen und wieder zu wecken, darum geht es letztlich in dieser vielleicht grössten Fussballstadt auf Erden – und nicht um UEFA-Länderpunkte.

Im Derbytaumel rund um den Platz mit der Beşiktaş-Skulptur fasst ein Fan das ganze Wesen des türkischen Fussballs in einem Satz zusammen: «Wir haben zwar keinen Plan, aber es ist alles möglich!» Dabei leuchten seine Augen.

Er träumt schon jetzt davon, im nächsten Mai durch diese Gassen zu ziehen und seiner rauen Kehle diese überdeutlichen Laute entsteigen zu lassen: Şampiyon!

 

Dieser Text erschien in ZWÖLF #64, der Ausgabe vom Januar 2018. Djourou, Neumayr und van Persie haben die Türkei inzwischen wieder verlassen. Michael Frey wechselte im August 2018 zu Fenerbahçe.