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Raphael Wicky

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«Vor mir soll keiner Angst haben»

Jetzt also doch: Raphael Wicky wird neuer FCB-Trainer. Das gab der Klub am Freitag bekannt. Der ehemalige Nationalspieler ist eben nicht nur oft im Fernsehen zu sehen, sondern gilt auch als eines der grossen Trainertalente des Landes. ZWÖLF traf ihn im Sommer 2016 für Ausgabe #56 zum Interview.

Interview: Mämä Sykora und Martin Bieri / Fotos: Stefan Bohrer

Raphael Wicky, du bist schon mit 16 beim FC Sion in den Profifussball eingestiegen. Würdest du heute den Raphael von damals in die erste Mannschaft integrieren?
Schwer zu sagen, ich habe mich selbst nicht so richtig realisiert damals. Ich hatte eine gute Statur für einen 16-Jährigen. Technisch und taktisch habe ich mich verhalten wie ein fertiger Spieler. Eine gewisse Reife muss ich auch schon gehabt haben. In meinem zweiten Einsatz in der NLA in Kriens wurde ich als Innenverteidiger eingewechselt. Später hat man mir gesagt, ich sei auf den Platz gekommen und hätte den Nationalspielern Yvan Quentin und Dominique Herr Anweisungen gegeben. Offenbar war ich mit 17 kein Kind mehr.

Wie haben das die Teamkollegen aufgenommen?
Es hat sich jedenfalls nie jemand beklagt. Ich war ja nicht arrogant, es ging um die Kommunikation auf dem Platz. Heute verlangen wir von den Junioren, dass sie im Spiel miteinander sprechen.

Betraf diese Reife auch das Leben neben dem Platz?
Ich war früh auf den Fussball fokussiert. Am Ausgehen war ich nicht besonders interessiert. Manchmal habe ich meinen Eltern sogar gesagt, sie sollten mich um 23 Uhr irgendwo abholen, weil ich am Tag danach Match hatte. Erst als Bundesligaprofi habe ich mir diesbezüglich mehr Freiheiten genommen. Ich war immerhin ein junger Mann vom Dorf in der grossen Stadt.

Dem Wechsel zu Werder Bremen hast du allerdings die RS vorgezogen.
Ja, Bremen wollte mich schon 1996 nach meinem Hackentor im Cupfinal gegen Servette verpflichten. Ich habe abgesagt, weil ich die RS beenden wollte, sonst hätte ich sie später nachholen müssen. Bremen liess aber nicht locker. Zudem bekam ich mit, wie familiär der Verein ist, das gefiel mir. Einmal traf ich mich mit  Trainer Dixie Dörner in Sion zum Essen und habe ihn geradeheraus gefragt: «Ja bist du denn nächste Saison noch Trainer?» Das fand er lustig. Als ich nach Bremen kam, war Dörner nach zwei Monaten weg.

Bei Werder hattest du vier Trainer in den ersten zwei Jahren.
Dörner, Sidka, Magath und dann Schaaf. In meiner Karriere ging alles gut. Bis zu Magath. Das war eine einschneidende Erfahrung. Ein Beispiel: Mit Magath gingen wir immer morgens um sieben in den Wald joggen, noch im Dunkeln und auch im Winter, wenn alles gefroren war. Magath lief nicht den Weg entlang, sondern bog plötzlich ab ins Gebüsch. Wir hinterher, quer durchs Unterholz. Einmal tauchten zwei Wildschweine vor uns auf und wollten guten Morgen sagen. Ein anderes Mal verloren wir beim Joggen Lodewijk Roembiak und Andreas Herzog im Gehölz. Magath fuhr trotzdem los. Irgendwann tauchten sind sie dann zu Fuss im Hotel auf.

Wie beurteilst du ein solches Verhalten heute, mit den Augen eines Trainers?
Es waren acht lehrreiche, aber harte Monate. Ich hatte jeden Tag Angst. Angst, etwas falsch zu machen. Magath wurde nicht laut, er war eher zynisch. Damit konnte ich, im Gegensatz zu anderen Spielern, nicht umgehen. Ich will nicht, dass Spieler mit Angst zu mir ins Training kommen. Wenn du Angst hast, kannst du nicht deine beste Leistung bringen. Ich glaube, wenn du Vertrauen spürst, wenn du dich wohlfühlst, bist du besser. Man muss die Spieler fordern, ohne dass sie die Freude verlieren.

Dann kam Schaaf. War von Anfang an absehbar, wie lange er bleiben würde?
Der Klub sehnte sich nach Stabilität wie zuvor unter Otto Rehhagel. Also nahmen sie einen aus den eigenen Reihen, der den Charakter des Vereins verinnerlicht hatte. Das ist unterdessen ein Trend geworden: Vereine bilden nicht mehr nur gute Spieler, sondern auch gute Trainer aus.

2001 hast du dich Atlético Madrid, das gerade abgestiegen war, angeschlossen. Viele haben diesen Wechsel nicht verstanden. Warst du schlecht beraten?
Vorher war Max Urscheler mein Berater gewesen. Im Herbst 2000 hatte ich Borussia Dortmund schon mündlich zugesagt, doch dann kam Marcel Schmid, der seither mein Berater und ein guter Freund ist, mit einem Angebot aus Madrid. Im Süden zu spielen, war schon immer mein Traum gewesen. Klar, es war zweite Liga, aber Atlético ist trotzdem der drittgrösste Verein Spaniens und bezahlte noch mehr als der BVB, der mir schon einen Riesenvertrag angeboten hatte. Ich wusste ja noch nicht, dass ich nicht alles davon sehen würde.

Atlético wurde noch vom schwerreichen und schillernden Jesus Gil y Gil dirigiert, hatte aber finanzielle Probleme.
Da merkte man schnell, dass das eine andere Welt war. Gil y Gil fuhr stets mit einer riesigen Limousine vor, begleitet von seinen Bodyguards. Alles war viel grösser, viel anonymer. Die haben mir ein Haus angeboten, etwas ausserhalb: 780 Quadratmeter Wohnfläche, 8 Schlafzimmer, 12 Bäder, Riesengarten mit Pool. Und ich so: «Schön, aber ein bisschen gross für mich allein, nicht?» Eine Woche später hat es ein 20-jähriger Portugiese mit seiner Freundin genommen. Ich musste mich daran gewöhnen, dass das als normal galt. Ich hatte das Gefühl, die Fans verlangten das. Da konntest du nicht mit einem Seat vorfahren.

Hast du dir damals deinen Maserati gekauft?
(lacht) Nein, das war erst später.

Gespielt hast du aber kaum in Spanien. War es also eine Enttäuschung?
Beim ersten Training unter Luis Aragonés nach der Sommerpause standen 39 Spieler auf dem Platz. 39 Stück! 7 davon waren Nicht-EU-Ausländer wie ich. Nur 3 durften spielen. Viele meinen, diese Zeit sei deshalb eine Enttäuschung gewesen. Das sehe ich aber nicht so. Ich habe mir mit Spanien einen Traum erfüllt, das Land, die Sprache und den Fussball kennen gelernt. Ich fand es super.

Bremen wurde nach dir Meister, Dortmund wurde ohne dich Meister. Hast du dich falsch entschieden?
Und Dortmund ging in Konkurs ohne mich (lacht). Nein, die Entscheidungen waren aus dem Moment heraus richtig. Ich habe für mein Leben wichtige Erfahrungen gemacht, auch, wenn es sportlich nicht ganz aufgegangen ist, auch weil ich mich noch verletzte. Deshalb wechselte ich zum HSV, der einen Teil meines ausstehenden Lohns anstelle von Atlético beglich.

Von Werder zum HSV, geht das?
Direkt vom einen zum anderen Klub, das hätte ich nicht gemacht. Aber man ist Profi, und am Ende muss man auch für sich schauen.

Einmal hast du mit dem HSV in Bremen 0:6 verloren.
Ja. Danach hatten wir eine Sitzblockade der Fans. Ich habe überhaupt mehrere Sitzblockaden erlebt.

Bringt das irgendetwas?
Nein. Ich verstehe die Enttäuschung der Leute, aber in dieser Situation musst du dir so viel primitives Zeug anhören, weil die meisten betrunken sind, das ist nur unangenehm. Ich habe mir jedenfalls danach nicht mehr Mühe gegeben als vorher schon. Wir hatten ja nicht mit Absicht verloren.

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Eine schlechte Nachricht bleibt eine schlechte Nachricht, auch wenn du eine halbe Stunde um den heissen Brei herumredest.

2007 endete deine Zeit beim HSV vorzeitig.
Ich hatte fast sechs Jahre dort gespielt, manchmal mit Schmerzen, manchmal unter Voltaren. Ich hatte bereits öfter Probleme mit der Wade. Huub Stevens sagte mir, er setze nicht mehr auf mich, und der Verein zeigte mir das auch. Bei einem UI-Cup-Spiel liessen sich mich zu Hause und nahmen an meiner Stelle Junioren mit, ich wurde in der zweiten Mannschaft eingesetzt. So ist das Business. Am Ende sagt dir keiner Danke.

Würdest du es als Trainer gleich machen?
Der Manager Dietmar Beiersdorfer und Stevens waren ehrlich zu mir. Das war das Wichtigste für mich, und so versuche ich auch zu handeln. Man sollte nicht ausweichen. Der Spieler hat lieber eine Wahrheit, die schmerzt, als dass man ihn im Ungewissen lässt und taktiert. Eine schlechte Nachricht bleibt schlecht, ob du eine halbe Stunde um den heissen Brei herumredest oder ob du geradeheraus sagst, wie es ist.

Hast du als Nachwuchstrainer da eine besondere Verantwortung?
Ja, speziell auf Stufe U18. Aus der U21 kannst du es in den bezahlten Fussball schaffen, aber in der U18 platzen Lebensträume. Deshalb trägt der ganze Staff solche Entscheidungen mit.

Gerade in Basel ist es doch beinahe aussichtslos, in die erste Mannschaft vorzustossen, die Ausnahmetalente einmal ausgeschlossen. Eigentlich produzierst du für den Rest der Liga.
In den drei Jahren, in denen ich jetzt hier bin, hat jedes Jahr ein Talent ein paar Einsätze bekommen. Aber natürlich ist der Sprung von der U18 in ein Kader, das für die Champions League zusammengestellt ist, in vielen Fällen zu gross. Die erste Mannschaft des FCB hat ein derart breites Kader, dass bei uns der Sprung vom Nachwuchs ins Profiteam sicher höher ist als anderswo. Wir versuchen den Jungen deshalb Alternativen aufzuzeigen. Das kann bedeuten, dass sie die Spielpraxis zuerst in einem anderen Verein holen, wie es zum Beispiel Yann Sommer bei Vaduz und GC gemacht hat. Wir wollen natürlich möglichst viele eigene Junioren einbauen, aber planen kann man das kaum.

Du hast die Ehrlichkeit in der internen Kommunikation erwähnt. Gilt das auch für die Aussendarstellung? Als du 2007 zum FC Sion zurückgekehrt bist, hast du von «Herzensangelegenheit» und von «Heimkehr» gesprochen. Nach einem halben Jahr warst du wieder weg. Verstehst du, wenn sie im Wallis sagen, der war nicht ehrlich mit uns?
Aber es war so. In der Schweiz wollte ich nur noch für Sion spielen. Nur habe ich damals nicht realisiert, dass ich körperlich eigentlich nicht mehr dazu in der Lage war. Ich lief von einer Operation in die nächste. Wäre ich gesund geblieben, hätte ich noch drei Jahre in Sitten gespielt. Ich hatte schon im Sommer ein Angebot der Chivas aus Los Angeles, und das habe ich im Winter dann angenommen. Diese Erfahrung wollte ich noch machen. Ich dachte, vielleicht werde ich dort gesund. Und es passte zu meinem Traum vom Süden. Ich habe auch in Kalifornien nur fünf Spiele gemacht, und doch war es eine fantastische Lebenserfahrung.

Wenn die Sonne scheint, bist du zufrieden.
Des Geldes wegen bin ich sicher nicht in die USA gegangen, auch wenn mir das aus dem Sion-Umfeld nachgesagt wurde. Ich habe 200’000 Dollar brutto verdient. Das ist viel Geld, verglichen mit vorher aber war es nichts. Ich musste mir dann aber eingestehen, dass es einfach nicht mehr geht. Ich brauchte zwei Jahre, um das zu realisieren. Da ist mir klar geworden, wie abhängig man vom Körper ist. Es hört sich selbstverständlich an, aber für mich war das existenziell. Ich habe das Buch von Sebastian Deisler gelesen und verstehe, dass man in so einer Situation Depressionen bekommen kann. Ich habe nur noch in mich hineingehört und war froh, wenn ich am Abend keine Schmerzen hatte. Ein Training ohne Verletzung war ein Erfolg. Wenn du so weit bist, musst du wirklich aufhören.

Denkst du als Trainer manchmal daran, in welches Leben du diese jungen Leute hineinschickst?
Ich schicke sie ja nicht, es ist ihre Entscheidung.

Du könntest ihnen abraten.
Wir bereiten sie darauf vor, dass das Berufsleben viel brutaler wird als die Ausbildung. Nur lernst du es eben erst, wenn du es selbst erfährst. Auch wenn die Trainer heute ganz anders kommunizieren und bewusster mit den Menschen umgehen: Die Regeln sind die gleichen. Du spielst oder du spielst nicht, wenn du nicht funktionierst, funktioniert ein anderer. So ist das Business. Es ist ein wunderschöner Job, aber ein harter. Ich vergleiche mich nicht mit einem, der morgens auf den Bau geht, aber der psychische Druck ist im Spitzensport enorm. Und nur die allerwenigsten verdienen die grosse Kohle damit.

In einem Interview mit «11 Freunde» hast du mal gesagt, je reicher der Klub, desto falscher das Business. Stehst du dazu?
Ja, aber ist das nicht überall auf der Welt so, nicht nur im Fussball?

In diesem Fall bist du ein Angestellter des «falschesten» Klubs der Schweiz.
Nein, das stimmt nicht. Hier wird sehr seriös gearbeitet, mit grosser Stabilität. Sonst entspricht es aber meinen Erfahrungen mit den Vereinen. Je mehr Geld im Spiel ist, desto grösser ist die Gefahr von Korruption, Unehrlichkeit, Machtkämpfen.

Wie hat dich das viele Geld verändert?
Gar nicht. Ich habe mich nie über das Geld definiert. Auch nicht über den Fussball allein. Ich glaube, deshalb hatte ich nach der Karriere auch kein Problem. Mir hat nichts gefehlt. Ich war erleichtert und glücklich. Zuerst ging ich ein halbes Jahr auf Reisen. Dann habe ich beim jetzigen Trainer von Mainz 05, Martin Schmidt, der damals noch U21-Trainer von Thun war, reingeschaut, habe meine Trainerkurse angefangen und konnte erst noch zum Fernsehen. Ich hatte das Glück, sofort wieder etwas zu finden, was mir jeden Tag Freude macht.

Das gelingt nicht jedem.
Das ist das Schwierigste überhaupt. Zwanzig Jahre lang hast du etwas gemacht, was dich vollkommen befriedigt hat. Und jetzt bist du Mitte dreissig und musst etwas finden, dass dir für den Rest deiner Tage das gleiche Gefühl gibt. Da fängt das Leben noch einmal von vorne an.

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Das hat mich schon als Spieler aufgeregt, wenn einer der Ehemaligen uns kritisiert hat.

Du nimmst dir Zeit, um Trainer zu werden. Zuerst hast du die U14 von Servette trainiert, seit 2013 bist du im Nachwuchs des FC Basel. Dabei hättest du schon mehrfach Jobs in der Super League annehmen können.
Ich habe immer gesagt, dass ich zuerst alle Diplome machen will. Im September ist es so weit, was nicht bedeutet, dass ich zu haben wäre. Ich habe einen laufenden Vertrag beim FC Basel.

Woher kommt denn das Interesse an dir? Immer, wenn irgendwo einer gehen muss, heisst es, der Wicky sei Trainer der Zukunft. Dabei ist ein Nachwuchstrainer für Aussenstehende schwer zu beurteilen, es heisst ja immer, da zählten die Resultate nicht.
Gleichgültig sind die Ergebnisse auch beim Nachwuchs nicht. Warum ich so eingeschätzt werde, weiss ich allerdings nicht. Ich mache mir da keine grosse Platte darum. Einen Plan habe ich auch keinen.

Hilft das Fernsehen?
Nur damit mich die Öffentlichkeit nicht vergisst. Aber meine Arbeit auf dem Platz lässt sich so natürlich nicht beurteilen. Ich würde nie einen Job von jemandem annehmen, der mich nur aus dem Fernsehen kennt.

Wenn man dich und Gilbert Gress im Fernsehen über Fussball sprechen hört, hat man das Gefühl, in den Jahren, die euch trennen, habe einen unglaubliche Entwicklung stattgefunden. Früher war er dein Trainer, heute bist du Trainer. Aber ist das wirklich noch derselbe Beruf?
Gress hat immer einen modernen Fussball spielen lassen. Vielleicht hat er die technische Entwicklung darum herum nicht ganz mitgemacht, das kann sein. Seit ich 2008 aufgehört habe, hat sich der Fussball mehr verändert als in den 15 Jahren, in denen ich gespielt habe. 2004 hatten wir plötzlich einen Koch in Hamburg. Man begann, Blut dem Ohr zu nehmen, um den Entzündungswert festzustellen. All die neuen Messsysteme hielten Einzug. Heute könnte ich nach jedem Training eine Datensammlung so dick wie euer Heft bekommen. Aber was davon ist wirklich wichtig? Das Athletische hat so sehr an Bedeutung gewonnen, dass du ohne die richtigen physischen Voraussetzungen keine Chance mehr hast, Profi zu werden. Trotzdem ist für mich die Spielintelligenz noch immer das Entscheidende.

Bist du im Fernsehen immer ganz unbefangen?
Ich bin ja nicht im Fernsehen, um zu beurteilen und zu werten. Das hat mich schon als Spieler aufgeregt, wenn einer der Ehemaligen uns kritisiert hat. Ich versuche, konstruktiv zu sein und die Sicht eines Spielers zu vermitteln.

Gut, aber könntest du den Satz sagen: «Der FC Basel hat eine schlechte Nachwuchsarbeit», wenn es angebracht wäre?
Ich muss ihn ja nicht sagen, wir haben eine gute Nachwuchsabteilung. Abgesehen davon weiss Rainer genau, welche Fragen er mir stellen soll und welche nicht (lacht).