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Nati gegen Nazis

Mitten im Zweiten Weltkrieg trug die Schweiz vier Freundschaftsspiele gegen das Deutsche Reich aus. Die Aufeinandertreffen bedingten einen diplomatischen Seiltanz. Ein Artikel aus der aktuellen Ausgabe #103.

Text: Mämä Sykora / Bilder: Keystone

Wie viele Menschen anwesend sind, weiss niemand genau. Unablässig strömen sie ins Wankdorf, obwohl kaum mehr Platz zu finden ist. Kurzfristig werden weitere 4000 Tickets ausgegeben, ein Zusatzkontingent gibt es für die Soldaten, die sich zu zweit ein Billett teilen dürfen. «Dichter zusammenrücken!», hört man in allen Sektoren, während auf dem Platz die Verpflegungskompanie und eine Feldartillerie-Elf das Vorspiel bestreiten. Und dann laufen endlich die Fussballer ein, deretwegen so viel Publikum angereist ist wie noch nie an ein Länderspiel hierzulande. Es ertönt die Hymne der Gäste in Weiss, gefolgt vom «Horst-Wessel-Lied», das die Ermordung politischer Gegner durch die SA preist. Auf der Tribüne werden in einem Block begeistert Hakenkreuz-Fähnchen geschwenkt. Es ist April 1941. Das Deutsche Reich hat fast ganz Europa besetzt, von Norwegen bis Griechenland, von Frankreich bis Bulgarien, bombardiert England, errichtet jüdische Ghettos und Konzentrationslager. Hunderttausende sind bereits gestorben. Und die Schweiz empfängt Deutschland zum freundschaftlichen Fussballspiel.

Die FIFA hat nichts dagegen. Noch im Oktober 1939 hofft sie in ihrem monatlichen Bulletin, der Fussball möge «auch in stürmischen Tagen seine Berechtigung haben und allen Ländern – auch den kriegführenden – wenigstens eine sportliche Verbindung ermöglichen». Über einen Ausschluss Deutschlands diskutiert sie weder nach dem Überfall auf Polen noch nach dem Einmarsch in Frankreich. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs ist der internationale Spielbetrieb praktisch zum Erliegen gekommen. Der Schweizerische Landesverband für Leibesübungen empfiehlt denn auch, vorerst auf den Austausch mit Kriegsnationen zu verzichten. Doch bald ist die Schweiz umschlossen von solchen. Anfang 1941 folgt deshalb die Kehrtwende: In einem Rundschreiben wünscht sich der Bundesrat ausdrücklich die Wiederaufnahme der Sportkontakte zu Deutschland, «auch im Hinblick auf die künftige Gestaltung der zwischenstaatlichen Beziehungen.»

Der Historiker Jakob Tanner, Mitglied der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, sieht diesen Schritt in einem grösseren Zusammenhang: «Neutrale Länder neigen dazu, sich mit den Mächtigen zu arrangieren.» Das habe in der Schweiz für alle Bereiche vom Sport über die Kultur bis zur Wirtschaft gegolten. Sie war auf Rohmaterial aus Deutschland angewiesen, im Gegenzug gewährte sie Kredite und lieferte gar Waffen. Den sportlichen Duellen attestiert Tanner eine «enorme Ambivalenz»: Niemand habe die Nazis als Freunde bezeichnen wollen, aber mit dem Begriff Freundschaftsspiel konnte die Sache entpolitisiert werden.

Gleich nach der Aufhebung des Banns werden wieder Länderspiele angesetzt, ein erstes in Stuttgart, ein nächstes in Bern. Deutschland, wo das Regime spätestens bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin die Propagandakraft des Sports erkannt hat, sieht die Gelegenheit, sich endlich wieder einem Publikum von ausserhalb der besetzten Gebiete zu zeigen. Der «Kicker» schreibt im Vorfeld: «Die – wir dürfen das wohl ruhig zum Ausdruck bringen – etwas misstrauischen Freunde aus der Schweiz mögen sich in Stuttgart überzeugen, und sie mögen dann in ihrer Heimat erzählen, wie es im Deutschland von 1941 wirklich aussieht.» Der Schweizerische Fussballverband ist sich der Gefahr einer propagandistischen Ausschlachtung dieser Begegnungen bewusst. Er räumt ein, dass «Länder­spiele eine Bedeutung erhalten können, die auf das politische Gebiet hinüberreicht». Skeptisch ist denn auch der Schweizer «Sport»: «Ob es klug und geboten ist, jetzt schon wieder Spiele mit kriegführenden Mächten abzuschliessen, ist eine Sache der politischen Anschauung. Die Meinungen dar­über sind im Sportvolk sehr geteilt.» Einen Boykott der Partien fordert hierzulande jedoch niemand öffentlich.

Diese Recherche wurde mit Unterstützung von JournaFONDS realisiert.

Die Schweiz als Sparringspartner
Die rund 20-köpfige Schweizer Delegation versammelt sich in Zürich, nach einem Stadtbummel fährt sie mit dem Zug an die Grenze, wo die Spieler des FC Schaffhausen Süssigkeiten überreichen. In einem Sonderwagen geht es weiter nach Stuttgart, bei Empfängen betonen verschiedene Redner die guten Beziehungen der beiden Länder erinnern daran, dass die Schweiz nach dem Ersten Weltkrieg die erste Nation war, die – gegen den Widerstand von Frankreich und England – den Spiel­be­trieb mit Deutschland wieder aufnahm. Bei der Partie in der Adolf-Hitler-Kampfbahn gibts dann allerdings keine Geschenke: Die Nati hält zwar gut mit, verliert aber nach einem verschossenen Elfmeter und einem (angeblichen) Abseitstor 2:4. Es ist die kleine Revanche für die Achtelfinal-Niederlage an der WM 1938 in Frankreich, wo das hoch favorisierte deutsche Team – verstärkt mit den Stars des zuvor angeschlossenen Österreich – sensatio­nell mit dem gleichen Resultat gegen die Schweiz ausschied. Beim Bankett im Hotel Graf Zeppelin ist die Stimmung, wie der «Kicker» notiert, dennoch «ein wenig gedrückt». Der Hauch von Normalität kann nicht überdecken, dass rundherum ein Krieg wütet. Erst nach und nach vermischen sich die Delegationen, bis der Deutsche Robert Weiller – einst für Lausanne-Sports aktiv – die Nimmermüden auf eine Kneipentour mitnimmt.

Bei einem Länderspiel in Zürich 1937 werden die Tausenden von Schlachtenbummler aus Deutschland beschimpft und bespuckt, mit faulen Äpfeln und Steinen beworfen, Hakenkreuz-Flaggen werden entwendet und zerrissen, einige wischen sich damit den Hintern ab.

Die Zurückhaltung überrascht nicht. «In der Schweiz dominierte eine skeptische bis ablehnende Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus. Sie verstärkte noch Antipathien und Ängste, die es schon vorher in Bezug auf den grossen Nachbarn gab», sagt Jakob Tanner. Zu spüren bekommen dies die Deutschen bei einem Länderspiel in Zürich 1937. Die Tausenden von Schlachtenbummler werden beschimpft und bespuckt, mit faulen Äpfeln und Steinen beworfen, Hakenkreuz-Flaggen werden entwendet und zerrissen, einige wischen sich damit den Hintern ab. Die Gestapo Stuttgart klagt danach: «Länderspiele werden in der Schweiz zu politischen Demonstrationen missbraucht», die Deutschen würden «nicht als Gäste, sondern als Fremde fast allgemein frostig behandelt».


Vier Jahre später, beim Massenandrang im Berner Wankdorf, wäre derart offene Ablehnung angesichts der Bedrohung ennet der Grenze gefährlich. Seit 1938 ist die Geistige Landesverteidigung offizielle Doktrin. Sie will einheimische Werte vor totalitären Ideologien schützen, auch im Sport. Gleichzeitig wird genau darauf geachtet, den mächtigen Nachbarn keinesfalls zu provozieren. Die Abteilung Presse und Funkspruch wird formiert, eine Zensurbehörde, die der Armee unterstellt ist. In ihrem Abschlussbericht beschreibt sie das Vorgehen: «Die Überwachung veranlasste, mit ‹vorbeugenden› Vermerken schriftlich oder telephonisch einzugreifen, in dem Sinne, dass den Redaktionen in Bezug auf bestimmte Vorkommnisse besondere Zurückhaltung in den Kommentaren im Aussprechen von Vermutungen usw. empfohlen wurde.» Der «Sport» gab dies an seine Leserschaft so weiter: «Damit keiner was Dummes schreibt, sagen sie einem vorher, was er ja nicht zu schreiben und worüber er unter keinen Umständen zu berichten habe.» Die «Berner Tagwacht» beschwerte sich direkter über diese Einmischung, sie wurde kurzerhand für drei Tage verboten. Dass nicht mehr kritische Berichte rund um diese Partie erschienen, erklärt Historiker Jakob Tanner mit der «Schere im Kopf»: «Man wusste ungefähr, was toleriert wurde, und nahm deshalb Selbstzensur vor. Einige Zeitungen behalfen sich frecherer Methoden und druckten Leerraum ab. Unnötig für Unruhe sorgen wollte niemand.»

Das Echo bleibt trotzdem nicht aus. 17 Extrazüge fahren nach Bern. Unter den Reisenden befinden sich viele Schweizer Männer in Armeeuniform. Sie dürfen für das Grossereignis ein paar Tage Militär­urlaub beziehen. Der Publikumszuspruch beschert dem Fussballverband bitternötige Einnahmen in einer schwierigen Phase. Zum einen hat er Mühe, den Ligabetrieb aufrechtzuerhalten, weil den Klubs nach der Mobilmachung Spieler fehlen oder ihr Platz im Zuge des Plans Wahlen in Landwirtschaftsfläche umgewandelt wird. Zum anderen droht ihm durch den zwischenzeitlichen Wegfall der einträglichen Länderspiele das Geld auszugehen.

Ernste Mienen und Hitlergrüsse 1941: General Henri Guisan (in Uniform), zu seiner Rechten Bundesrat Karl Kobelt, neben ihm der deutsche Gesandte Otto Köcher. (Keystone)

 

«Fussball-Heiri» neben den Nazis
Heikel ist auch der adäquate Umgang mit den deutschen Ehrengästen: Gute Gast­geber will man sein, aber keine ungesunde Nähe zu den Vertretern des NS-­Regimes zeigen. Angereist ist etwa Karl Strölin, der als Oberbürgermeister Stuttgarts Juden ihrer Arbeitsstellen enthob und Wohnungen nur für Leute mit Ariernachweis bauen liess. Als die Hymne erklingt, hebt er wie die deutsche Elf den Arm zum Hitlergruss. Daneben stehen in Achtstellung Bundesrat Kobelt und Henri Guisan, der bis zu seiner Ernennung zum General Präsident des FC Stade Lausanne ist und des­wegen im Volksmund «Fussball-Heiri» genannt wird.

Die deutsche Mannschaft gilt als «neues Wunderteam». Zwei Wochen zuvor hat sie Ungarn mit 7:0 weggefegt, nun gegen die Schweiz hat sie mehr Mühe. Einem beidseitig nervösen Beginn folgen abwechselnde Druckphasen, schliesslich ist es die Elf von Sepp Herberger, die vorlegt: Willi Hahnemann drischt das Leder nach einer halben Stunde unter die Latte. Die Schweizer haben Mühe, zu reagieren, weil Lajo Amadó so gut bewacht wird, dass er kaum seine berüchtigten Steilpässe anbringen kann. Kurz vor dem Wechsel ist es dann doch er, der einem Ball bis zur Grundlinie nachjagt, zur Mitte spielt, wo Numa Monnard verwandelt. Männer in Mänteln hüpfen auf und ab, Hüte fliegen durch die Luft, es ist so laut wie wohl noch nie in einem Schweizer Stadion.

In der Pause lässt es sich General Guisan nicht nehmen, beiden Kabinen einen Besuch abzustatten. Die Schweizer scheint er eher eingeschüchtert zu haben: Sie sind danach fast nur mit Abwehrarbeit beschäftigt und haben Glück, als Fritz Walter nach einem Missverständnis zwischen Goalie Erwin Ballabio und dem routinierten Severino Minelli den Ball neben den Pfosten setzt. Die Partie wird ruppiger, besonders Amadó bekommt einiges ab, gleichzeitig werden die Zuspiele der Deutschen immer unpräziser, was Konterchancen ermöglicht. Zwei Minuten vor Schluss ist es erneut Amadó, der so lange nachsetzt, bis er den Ball erobert und Monnard bedient – und der wiederum netzt nochmals ein. «Ein Orkan des Beifalls erschüttert das Stadion», schreibt der «Bund». Kaum ertönt der Schlusspfiff, fluten die Zuschauer den Platz. Die Helden werden auf Schultern getragen, Freudentaumel erfasst die Stadt.

Geschätzte 39’000 Zuschauer gegen Deutschland im Wankdorf bedeuten 1941 Rekord. Die Freude nach dem Sieg ist riesig. (Keystone)

Schmach an Hitlers Geburtstag
In Deutschland wird die Nachricht von der überraschenden Niederlage nicht gut aufgenommen. Die Zeitschrift «Der Fussball», die sonst ausführlich über Länderspiele berichtet, handelt die Berner Partie auf einer Seite ab und schliesst mit dem Satz: «Viel mehr ist zu dem 2:1 nicht zu sagen.» Die Schmach ist umso grösser, als sie sich an einem besonderen Datum ereignet. So notiert der «Kicker» unter einem gros­sen Foto Hitlers: «Am Geburtstag des Führers wollte die Nationalmannschaft unter den Gratulanten nicht fehlen. Drum schlug sie sich in der Hauptstadt der Schweiz für die Ehre des Reichs mit besonderem Eifer, als gute Soldaten des Fussballfeldes. Der Sieg ging verloren, aber die Bewunderung für die deutsche Elf blieb erhalten.» Die NS-Zeitschrift «Signal» versteigert sich derweil zur Aussage, den deutschen Spielern habe «kaum je so warmer Beifallsjubel zum Gruss» entgegen­geschlagen wie vom Berner Publikum, das «die Schönheiten des deutschen Spiels» zu würdigen wusste. Sie schreibt zudem: «Kleinmütige Gestalten meinen oft, grosse Staaten dürften sich im Fussball nicht von kleinen schlagen lassen. (…) Nein, gerade das gibt den Länderspielen den ewigen Reiz, erst recht jetzt im Krieg: nicht äussere Macht, sondern innerer spielerischer Wert entscheidet sie.» Nicht so nachsichtig zeigt sich Propagandaminister Joseph Goebbels: Er regt an, «keinen Sportaustausch zu machen, wenn das Ergebnis im Geringsten zweifelhaft ist».

Die deutsche Elf reist direkt nach dem Spiel heim. Der siegreichen Nati liest SFV-Präsident Otto Eicher dagegen beim Abendessen Glückwunschtelegramme vor. Für Historiker Jakob Tanner kam dieser Partie nicht zu unterschätzende Bedeutung zu: «Der Bevölkerung ein Massen­ereignis, ein Spektakel zu bieten, war in jener Zeit wichtig, um Normalität zu demonstrieren.» Dass dabei erst noch ein Triumph über den ungeliebten, grossen Nachbarn herausschaute, hat es noch wertvoller gemacht.

«Die grundsätzliche Problematik eines Fussballspiels gegen ein Land, das Angriffskriege führt, wurde allerdings durch die Freude über den Sieg überdeckt», so Tanner. Während im Wankdorf gejubelt wird, zeigt sich in London nach heftigen Angriffen der Luftwaffe mit Tausenden von Bomben ein Bild der Zerstörung. Jugoslawien wird besetzt, General Rommel greift in Nord­afrika die Briten an. Und kurz darauf erlebt der Weltkrieg mit dem Angriff der Deutschen auf die Sowjet­union eine nächste Eskalationsstufe.

Selbst das hält die Schweizer Nati nicht davon ab, weiter Länderspiele gegen Deutschland auszutragen. Im Februar 1942 gewinnt sie in Wien erneut 2:1, über den Sieg sagt der wieder installierte österreichische Natitrainer Karl Rappan, Mitglied der NSDAP: «Ein Auge lacht, das andere weint.» Feiern kann auch die Mannschaft wegen der kriegsbedingten Sperrstunde nicht richtig. Sie wird dafür in Buchs SG vom Bürgermeister, einer Harmonie und «zwei Dutzend holden Töchtern des Dorfes» («Sport») empfangen, abends stehen ein Bankett und Tanz auf dem Programm. Im Oktober reist die deutsche Elf nochmals nach Bern – und wird auch vom FC Schaffhausen an der Grenze mit Kuchen und Gebäck bedacht. Die meisten Spieler haben bereits an der Front gedient, viele tragen Kriegsauszeichnungen. Rechts­aus­sen Ernst Lehner zog sich in Russland gar Erfrierungen zu, zwei Finger musste er amputieren lassen. Trotzdem gewinnen sie gegen eine überalterte Nati 5:3.

Mit der brutalen Schlacht um Stalingrad ändert sich die Haltung der Schweiz wieder: Ein Rundschreiben mahnt die Sportverbände zur Zurückhaltung im Kontakt mit Deutschland. Der Bundesrat behält sich vor, solche Treffen nicht zu bewilligen. Im Reich werden indes Länderspiele generell für unerwünscht erklärt. Nach einer Heimniederlage gegen Schweden – neben der Schweiz das einzige nicht verbündete Land, das in Kriegszeiten gegen Deutschland antritt – poltert Goebbels: «100 000 sind deprimiert aus dem Stadion weggegangen; und da diesen Leuten ein Gewinn dieses Fussballspiels mehr am Herzen lag als die Einnahme irgendeiner Stadt im Osten, müsste man für die Stimmung im Inneren eine derartige Veranstaltung ablehnen.» Im November 1942 trägt Deutschland die letzte Partie für Jahre aus. Nach Kriegsende wird der Verband aus der FIFA ausgeschlossen und erst 1950 – auch dank dem Einsatz des SFV – wieder zugelassen. Der erste Gegner nach der Begnadigung ist – kein Wunder – die Nati, die in Stuttgart 1:0 besiegt wird.

«Eine einheitliche Linie ist schwierig»

Prof. Dr. Jürgen Mittag ist Professor für Sportpolitik an der Deutschen Sporthochschule Köln.


Herr Mittag, wäre es heute noch möglich, dass die Schweiz gegen eine Nation Fussballspiele austrägt, die

einen grossen Krieg lostritt?
Die damalige Ausgangslage lässt sich nicht in andere Situationen übertragen. Die Schweiz hatte immer ein spezielles Verhältnis zu Deutschland, auch in sportlicher Hinsicht. Sie nahm im Zweiten Weltkrieg eine diplomatische Haltung ein, zumal sie von kriegführenden Nationen umgeben war und sich nicht kategorisch gegen diese stellen wollte. So eine Lage kommt hoffentlich und vermutlich nie mehr vor.

Wie entscheidet denn die Sportwelt heute, mit welchen Ländern kein Austausch mehr stattfinden soll?
Die jeweiligen Statuten der Verbände – etwa des IOC oder der FIFA – geben einen gewissen Rahmen vor, doch die Formulierungen sind so abstrakt, dass es schwierig ist, eine einheit­liche Linie abzuleiten. Russen dürfen etwa bei Olympia unter neutraler Flagge antreten, wenn sie den Krieg in der Ukraine nicht aktiv unterstützen. Wie das zu überprüfen ist, ist nicht geregelt. Die mediale Aufmerksamkeit ist heute gross, die Unzufriedenheit über die aktuelle Handhabung ebenso. Das IOC empfahl den Verbänden ein unabhängiges Gremium für eine einheitliche Auslegung, dazu ist es bislang nicht gekommen.

Warum ist es so schwer, ein kriegführendes Land aus der Sportfamilie auszuschliessen?
Ein Ausschlussgrund könnte ein Angriffskrieg ohne UN-Mandat sein. Das klingt sinnvoll, aber nach diesem Kriterium hätten die USA nach ihrem Eingreifen in Jugoslawien sanktioniert und ihnen die Winterspiele 2002 entzogen werden müssen. Die Konflikte sind oft komplex, sodass sich kaum je weltweit eine einhellige Meinung bildet. Das gilt in Bezug auf Aserbaidschan und Armenien, Israel oder Russland, auch darum gibt es noch immer keine klare Handhabung.

Die russische Nationalmannschaft darf zwar nicht an Endrunden teilnehmen, trägt aber weiterhin Testspiele aus, etwa gegen Serbien oder Kamerun.
Genau. Die UEFA wollte letzten September russische Nachwuchsteams wieder zulassen, das scheiterte allerdings am Protest vieler Verbände. Zudem änderte das IOC seine Haltung stark: vom anfänglichen Ausschluss Russlands aus fast allen Verbänden bis hin zur Akzeptanz unter gewissen Bedingungen. In den Welt verbänden wird immer situativ entschieden, und sie sind eher zurückhaltend mit Sanktionen.

Ist der Sport heute politischer?
Diese Verflechtung gab es schon früher, man denke nur an die Olympischen Spiele in Moskau 1980 und Los Angeles 1984, die in Zeiten des Kalten Krieges von der jeweiligen Gegenseite boykottiert wurden. Damals standen sich mit Ost und West zwei Blöcke gegenüber, heute ist die Welt in viel mehr Bündnisse und Einflusssphären unterteilt. Der Sport mit seinen Grossanlässen und seiner Reichweite wird deshalb heute sicher öfter benutzt, um gesellschaftliche und politische Anliegen zu verhandeln oder zu transportieren. Das beginnt bei der Diskussion, ob ein EM-Stadion in Regenbogenfarben leuchten darf, und geht bis zur Frage, ob man gegen kriegführende Nationen Fussball spielen soll.