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Die Grazie Millas

Foto: Reto Schlatter

An der WM trifft die Schweiz auf Kamerun. Von deren grösster Legende, Roger Milla, finden sich Spuren auch hierzulande. Sein Sohn Albert spielt nämlich für den Zürcher Quartierverein FC Unterstrass. Ein Artikel aus ZWÖLF 66 vom Juni 2018.

Text: Kevin Brühlmann

Als Albert zum ersten Mal merkte, dass sein Vater berühmt war, sass er als Siebenjähriger vor einem kleinen Fernseher daheim in Yaoundé, der Hauptstadt Kameruns. Über den Bildschirm flimmerte sein Papa: Der lachte wie ein Lausbub in seinem viel zu grossen grünen Trikot, rannte über einen Fussballplatz zur Eckfahne, die linke Hand fuhr zur Leiste hinab, und er machte merkwürdige Schwünge mit der Hüfte. Klein Albert sah seine Gross­mutter ungläubig lachen. «Roger, was soll das?», rief sie zum Bildschirm, «du kannst doch überhaupt nicht tanzen, nie im Leben hast du getanzt!»

Und draussen, auf den Strassen Yaoundés, fielen Mensch, Tier und Maschine ins kollektive Delirium.

Ursprung der Feierlichkeiten: Kamerun gewann 2:1 gegen Kolumbien, und Alberts Vater, Roger Milla, schoss beide Tore. Damals an der Weltmeisterschaft 1990 in Italien. Damit waren der tanzende Milla und seine unzähmbaren Löwen für den WM-Viertel­final qualifiziert. Als erste afrikanische Mannschaft überhaupt.

Diskret dank Orthografiefehler

Jetzt sitzt Albert – 28 Jahre älter, in wenigen Wochen wird er 35 – wieder vor einem Fernseher, einem Mordsgerät, Kategorie Klein­wagen. Auf dem Tisch vor ihm ein Eistee, rundherum Zürichs Feierabendlärm. Diesmal interessiert sich Albert nicht für den TV, es läuft ein zweitklassiger Tennis-Rüttler. Diesmal geht es um die Frage: Wie ist es, als Sohn der afrikanischen Fussballlegende schlechthin aufzuwachsen?

Dass sein Vater Roger Milla heisse, sagt Albert, sei halt so. Sein Vater sei eben der, der er sei. Alberts Rezept ist die Diskretion: Sein Nachname lautet Miller. Derjenige des WM-Helden eigentlich auch, bis ein kamerunischer Standesbeamter mit Rechtschreibe­schwäche daraus ein Milla macht. «Es ist schön, diskret unterwegs zu sein», sagt Albert.

Noch heute finden sich auf kamerunischen Online-Portalen Votings, die rege Beteiligung versprechen: «Falls Roger Milla Nacktfotos machte, würde das seine Karriere beeinträchtigen?» oder «Glauben Sie, Roger Milla hatte eine Schönheits-OP?». Den Vater sieht Albert nicht mehr oft, zwei, drei Mal pro Jahr. Der Senior ist wieder nach Yaoundé gezogen, wo er diverse soziale Projekte leitet. Er sei aber noch genau so wie früher: extrem bescheiden. Und wenn man ihn an einen Anlass einlädt, wo die Anzüge teuer und die Mienen wichtig sind, kreuzt er stets in seinen alten Flipflops auf.

Albert Miller, um die 1,75 gross, schmale und athletische Statur, einnehmendes Lachen, lebt mit Frau und Sohn in Oerlikon. Nach einem Journalismus-Studium in Paris erhielt er 2009 einen Job bei der FIFA in Zürich. Zurzeit arbeitet er im Büro, das die WM-Qualifikationsspiele rund um den Globus betreut. Und Fussball spielt Albert auch – beim FC Unterstrass, einem Zürcher Quartier­verein aus der 2. Liga regional.

Eigentlich hätte es für ihn ja ein wenig anders kommen sollen: etwas mehr Milla und etwas weniger Miller. Aber wie sollte es das auch. Einen zweiten Roger Milla gab es nie mehr. Bevor der Stürmer Kamerun 1990 tanzend ins WM-Viertelfinale schoss, das man dann gegen England verlor, hatte er seine Karriere schon beendet. Auf der Insel La Réunion genoss der damals 38-Jährige den Ruhestand, als ihn Staatspräsident Paul Biya anrief und zum Comeback überredete. Am Turnier erzielte Milla, der stets in der zweiten Halbzeit reinkam, vier Tore.

Auch den Trainer hatte das Team dem autoritären Präsidenten von der kamerunischen Volksbefreiungsbewegung zu verdanken. Da der alte Coach abgesprungen war, rief Biya in der Sowjetunion an. Dort hatte man allerdings einiges um die Ohren, Tschernobyl inklusive, sodass man den afri­kanischen Genossen einen Typen abkommandierte, dessen Erfahrung sich auf einen turkmenischen Klub aus der dritten Division beschränkte. Ausserdem sprach er kein Wort Französisch. Immerhin konnte dann sein Chauffeur in Kamerun ein bisschen Russisch, weil er einst einen sowjetischen Boxer trainiert hatte. Irgendwie ging alles auf.

Vier Jahre später, 1994, wurde Roger Milla nochmals für die Weltmeisterschaft reaktiviert. Kamerun schied in der Vorrunde aus, Milla traf im Spiel gegen Russland. Mit 42 Jahren ist er bis heute der mit Abstand älteste Torschütze an einer WM.

Foto: Reto Schlatter


Tunnels und Täuschungen

Auch Albert Miller wollte Profi werden. In Montpellier, wohin seine Familie zog, als er elf war, brachte er es bis in die Reserve-Mannschaft. Später wurde er nach Mallorca verliehen. Zu mehr als ein paar Einsätzen in der dritten Division gelangte er jedoch nicht. Also begann Albert sein Studium in Paris. Sein Vater habe ohnehin nicht gewollt, dass er Fussball spiele, sagt er. «Beim Fussball hat er mich nie unterstützt.» Warum nicht? Schulterzucken.

Wie die Tennis-Partie im übergrossen TV zwar immer noch nicht besser wird, aber immerhin zu Ende geht, hüpft das Gespräch von Alberts Vater zum FC Unterstrass. Tags darauf sei ein Spiel, sagt Albert, ob man vorbeikommen wolle. Unter einer Bedingung, entgegnet man: Wenn du ein Tor schiesst, gibt es einen Eckfahnen-Tanz. Deal, sagt Albert begeistert und schlägt ein. Deal.

Der FC Unterstrass gewinnt gegen Bassers­dorf mit 2:0. Mit seinen zig Tunnels, Übersteigern und Körpertäuschungen agiert Albert Miller – der älteste Spieler auf dem Feld – als Demotivator der Gegner, quasi Wettbewerbsverzerrung. Einnetzen tut er allerdings nicht. Na dann mal weg mit dieser Eckfahne.

Anmerkung: Mittlerweile ist Albert Miller 39, hat seinen Job bei der FIFA niedergelegt, stürmt aber noch immer für den FC Unterstrass, der nun in der 2. Liga interregional spielt.