Ich, Kongo-Charly
Wegen Getreidesilos geht Charles Pulfer 1976 nach Afrika, kurz darauf spielt er als erster Weisser im Kongo und wird Cupsieger. So beginnt die abenteuerliche Karriere eines ehemaligen Drittliga-Kickers, der es bis in die Champions League schafft.
Text: Mämä Sykora / Illustration: Sascha Török
Es ist mehr als ein normales Meisterschaftsspiel im Oktober 1976 in Pointe-Noire, einer Hafenstadt der Republik Kongo. Deshalb ist das Stade Mvoulaleya fast doppelt so gut gefüllt wie sonst – trotz grosser Hitze. Denn obwohl es bereits später Nachmittag ist, kurz bevor die afrikanische Dunkelheit schlagartig alles einhüllt, ist es noch immer sehr heiss. Wer Glück hat, findet einen Platz auf der überdachten Haupttribüne, ansonsten ist man der Sonne schutzlos ausgeliefert. Viele der 10 000 Fans sind gekommen, um ihn spielen zu sehen. Ihn, den Neuzugang auf der Flügelposition des V. Club Mokanda. Die ersten Eindrücke können die Zuschauer nicht überzeugen. In den Anfangsminuten ist der 26-Jährige sichtlich nervös. Seine Kurzpässe sind ungenau, er hat Mühe, ins Spiel zu kommen. Doch dann folgt die 7. Minute: Der Captain des Heimteams zieht von der Strafraumgrenze ab, der Ball klatscht an die Latte und springt genau vor die Füsse des Debütanten. Und der drischt den Ball in den Winkel. Die Menge tobt. Der «Mundele» hat getroffen! Der Mundele, der Weisse, das ist Charles Pulfer, der wenige Monate zuvor noch für den FC Pieterlen in der 3. Liga aufgelaufen war.
«Von da an gings steil bergauf», lacht der heute 63-Jährige, und seine Augen beginnen zu leuchten. Wortreich und mit Tempo erzählt er die unglaubliche Geschichte des ersten weissen Fussballers im Kongo, vielleicht sogar in ganz Schwarzafrika. Das Tempo, das zeichnete ihn schon in jungen Jahren aus. Ein klassischer Flügelflitzer war er, beim FC Pieterlen in der Nähe von Biel fester Bestandteil einer Mannschaft, die mehrmals nahe am Aufstieg in die 2. Liga stand. Auf diesem Niveau sei er «einer der Besseren» gewesen, meint er bescheiden. Wahrscheinlich etwas mehr, immerhin hatte der damalige NLB-Klub Nordstern ein Auge auf Pulfer geworfen. Doch der hatte andere Pläne. Er brach seine Zelte in der Schweiz ab und flog südwärts. 8000 Kilometer weit. Losgezogen ist er als Polier und Bauleiter für seinen Arbeitgeber Frutiger, zurückgekehrt ist er als kongolesischer Cupsieger, die Jubelschreie von 35 000 Zuschauern noch im Ohr.
Mokanda statt Nordstern
Mitte der 70er-Jahre ist die Republik Kongo keine Traumdestination. Das Land ist sozialistisch geprägt und die Nachbarschaft ungemütlich: Im «grossen» Kongo, also Zaire, herrscht und wütet Diktator Mobutu, und in Angola tobt ein Bürgerkrieg. Durch das grenznahe Pointe-Noire, Charly Pulfers neue Heimatstadt, rollen regelmässig die Truppen, die Fidel Castro zur Unterstützung nach Angola schickt. Das Leben in der Hafenstadt bleibt aber friedlich. Pulfer arbeitet bei einem Projekt von mehreren europäischen Unternehmern mit, dem Bau von Getreidesilos. Sie sollten später zu einem Sinnbild für die zerschlagene Hoffnung auf Afrikas schnellen Aufschwung werden. Schon zehn Jahre nach der Fertigstellung wurden sie nicht mehr genutzt und verkamen zu einem 55 Meter hohen zerfallenden Mahnmal.
Die Arbeit ist hart und Pulfer ein gefragter Mann. Von den mitgereisten Schweizern spricht er mit Abstand am besten Französisch und ist deshalb oft dabei, wenn irgendwo verhandelt werden muss. Ab und zu spielen die Expats abends miteinander Fussball. Sogar für ein Freundschaftsspiel gegen einen lokalen Fussballverein werden sie eingeladen. Pulfer schiesst beim 4:1-Sieg zwei Tore und überzeugt den gegnerischen Trainer, der ihn sogleich anheuern will. Nordstern hat dies Monate zuvor noch vergeblich versucht, mit dem kongolesischen Erstdivisionär V. Club Mokanda aus Pointe-Noire will es Pulfer versuchen.
Vorerst bleibt es beim täglichen Training. Seine neuen Mitspieler sind zumeist Studenten. «Ich wurde grossartig aufgenommen!», schwärmt Pulfer. Er sei nun mal ein Typ, der immer offen auf Leute zugehe. Ohne Vorurteile. Verärgert erzählt er von hochnäsigen Europäern, die im Kongo nur unter sich lebten und Kontakt mit den Einheimischen als unter ihrer Würde empfanden. Pulfer fühlte sich unter den Kongolesen pudelwohl, und seine Leistungen im Training waren trotz der schwierigen klimatischen Bedingungen derart gut, dass der Verein auf eine Verpflichtung drängte. Mehrere Wochen dauerte es, bis sein Spielerpass eingetroffen war und der FC Pieterlen seinen ersten internationalen Transfer getätigt hatte.
Dass ein Weisser im Kongo spielte, war schlicht eine Sensation. Sogar der afrikanischen Ausgabe von «France Football» war Pulfers Debüt eine Zeile wert: «Das erste Tor gegen Télésport war das Werk eines Europäers. Er ist der erste, der in einer kongolesischen Mannschaft spielt.» Den Namen merkte sich der Journalist nicht. Pulfer, das passte auch nicht in eine Mannschaft mit Malouélé, Tchimbakala oder Mpassi. Deshalb bekam auch der «Mundele» bald einen neuen Namen: Obosso, der Vorwärtspirschende. Diesen Namen hatte sich Pulfer mit seinen Sprints die Linie entlang verdient. «Wenn ich nur schon den Ball zugespielt bekam, hallte es aus Hunderten Kehlen: ‹Obosso! Obosso!›», schmunzelt Pulfer. Erstmals musste er mit Erwartungshaltungen umgehen, nachdem ihn die vereinzelten Rufe der Senioren auf dem Sportplatz Moos in Pieterlen nicht unter Druck hatten setzen können.
Der Einfluss des Medizinmanns
V. Club ist damals eine der besten Adressen im kongolesischen Fussball. Die Nationalmannschaft hatte 1972 sensationell die Afrikameisterschaft gewonnen, einige dieser Helden sind nun Pulfers Mannschaftskollegen. Auf den Rasen im Heimstadion wäre mancher Schweizer Verein neidisch gewesen, behauptet Obosso. Die Vorbereitung auf die Spiele erachtet er noch heute als «hoch professionell» – wenngleich nicht ganz freiwillig. Jeweils am Vorabend zog der Trainer, ein ehemaliger Nationalspieler, das Team zusammen. Man übernachtete gemeinsam im «mordsgrossen» Haus des Vereinspräsidenten, der es als Boss der Air Afrique zu beachtlichem Reichtum gebracht hatte. «Die Kongolesen sind Festbrüder», bilanziert Pulfer. «Hätte man ihnen mehr Freiraum gelassen, hätten sie sich die Nacht tanzend und trinkend um die Ohren geschlagen und wären total platt zum Spiel erschienen.» Ihm selber wurde es freigestellt, ob er im Camp der Europäer oder beim Team übernachten wolle. Natürlich wählte er das Zweite: «Wenn ich mitmache, dann auch richtig.» Dass er beim gemeinsamen Essen, Plaudern und Kartenspielen stets dabei war, wurde ihm hoch angerechnet. Obosso war einer von ihnen.
Selbst am ganzen Programm des Medizinmanns nahm er teil. So durfte etwa die Mannschaft mit dem Bus nie den direkten Weg zum gegnerischen Stadion fahren, «parce que les routes sont minées», weil die Strassen vom gegnerischen Medizinmann verflucht worden seien. Kurz vor dem Spiel kam der Medizinmann dann nochmals zum Einsatz. Er verbrannte Kräuter am Boden, über die das Team laufen musste. Er ritzte die Haut der Spieler mit einem Rasiermesser auf und streute ein Pulver rein oder malte Kreuze auf die Fussballschuhe. Von einem lokalen Journalisten gefragt, ob er, Obosso, denn tatsächlich daran glaube, antwortete er: «Ja, natürlich.» Wenn Pulfer mitmacht, dann eben richtig. Die Bedeutung des Medizinmanns untermalt die Anekdote eines Ligakonkurrenten: Obwohl ein lockerer 2:0-Sieg vorausgesagt worden war, setzte es eine üble Schlappe ab. Der Medizinmann musste vor der wütenden Meute fliehen und ward nicht mehr gesehen. So löste man im Kongo, was in Europa zu einer profanen Trainerentlassung geführt hätte.
Pulfer bleibt unbeeindruckt. Auf dem Platz geht er nach eigenem Bekunden ab «wie ne Moore». Flügellauf um Flügellauf, bei 95 Prozent Luftfeuchtigkeit. Lauf, Obosso! Nach dem Tor beim Debüt fällt ihm alles leicht. Unzählige Male zieht er an Verteidigern vorbei, bereitet Tore vor, trifft auch selber. «Mit der Zeit durchschauten sie aber meine Tricks», gibt Pulfer zu. Zudem rackert er täglich acht Stunden auf der Baustelle, teilweise an der prallen Sonne. Das fordert seinen Tribut. Nicht immer ist er im Training in Topform, manchmal sitzt er in den Spielen nur auf der Bank. Einige Partien muss er sogar sausen lassen, weil er beruflich engagiert ist. Denn Lohn erhält er – wie auch seine Mitspieler – von V. Club nicht. Immerhin lädt der Präsident an Spieltagen zum Essen ein, ab und zu steckt er den Studenten im Team ein paar Noten zu, damit sie sich Fussballschuhe kaufen können. Auch Pulfer rüstet einige Mitspieler mit Schuhwerk aus – und ist oft mit seinen neuen Freunden unterwegs. Mit dem Firmenauto fahren sie abends und vor allem in der Saisonpause in der Trockenzeit oft an den Strand und geniessen gegrillten Fisch mit Pili-Pili, einer scharfen Sauce.
Keine Frage: Obosso ist beliebt. Und bekannt wie ein bunter Hund. An Strassensperren begrüsst die Militärpolizei «Monsieur Charles» freundlich und wünscht ihm viel Glück fürs Spiel am Sonntag, während die Franzosen regelmässig kontrolliert werden. Pulfer geniesst diese Popularität. Es hilft ihm, dass V. Club in der regional organisierten Meisterschaft vorne mitspielt, zum Gewinn reicht es indes nicht. Dafür gewinnt Obosso das Herz einer schönen Kongolesin. Es ist die Tochter des Trainers. Zwei Kinder werden sie zusammen haben, 1982 in der Schweiz heiraten und beim ersten Besuch in Charlys Stammbeiz Pfauen in Pieterlen für unzählige neugierige Blicke sorgen. Im Klub aber bringt ihm die Liaison freilich keinen Vorteil. Extrawürste, das mag Obosso nicht.
Cupsieger in Unterhosen
Wenn Pulfer erzählt, möchte man meinen, die Ereignisse lägen keine paar Monate zurück. Tatsächlich aber sind es fast 40 Jahre. Mühelos erinnert er sich an Gegner, Resultate und Meisterschaftsmodi. «Wenn du so etwas erlebt hast, dann bleibt dir das auch», erklärt er. Ein Erlebnis überstrahlt dabei alles. Denn im Cup 1977 war V. Club nicht zu bremsen. Die regionale Konkurrenz wurde ausgeschaltet, auch im Halbfinal blieb man siegreich. Es kam zum Endspiel gegen die Diables Noirs aus der fernen Hauptstadt Brazzaville, die beste Mannschaft des Landes, mit ihren sechs Internationalen. Die Anreise mit dem Zug dauerte einen ganzen Tag, Pulfer musste für den Final gleich vier Ferientage opfern.
Im Stade de la Révolution hatte damals die sensationelle Afrika-Cup-Kampagne der Nationalmannschaft, der «Diable Rouges», begonnen. Hier wurde Nigeria bezwungen und die Côte d’Ivoire besiegt. Und hier marschiert nun Charles Pulfer aus Pieterlen ein. Über 30 000 Zuschauer sorgen für einen höllischen Lärm. «Unglaublich», mehr kann Pulfer nicht sagen. Vorerst darf er nur auf der Bank Platz nehmen. Doch Aussenseiter V. Club macht seine Sache mehr als gut. Schon in der 5. Minute bringt Matama sein Team per Kopf in Führung, und diese wird bis zur Pause mit grossem Einsatz verteidigt. Danach endlich kommt der «Mundele» zum Einsatz, auf den die Zuschauer in der Hauptstadt schon sehnlich gewartet haben. Für seine Körpertäuschungen und Flügelläufe gibt es aber für einmal kaum Raum. «Die Technik wich nun vermehrt den Zweikämpfen, die von den physischen Qualitäten der zwei Mannschaften zeugten. V. Club war in diesem Bereich überwältigend», schilderte die Zeitung «La Semaine» den Spielverlauf. Die Diables Noirs bringen kaum mehr Offensivaktionen zustande. Am letzten Tag des Jahres 1977 gewinnt V. Club Mokanda zum zweiten Mal den kongolesischen Pokal – oder wie der Wettbewerb in sozialistischem Französisch heisst: den «Coupe du huitième anniversaire du Parti». Die siegreiche Mannschaft wird nach dem Schlusspfiff von einer Flut aus euphorischen Anhängern überrollt. Als Pulfer sich wieder orientieren kann, steht er bloss noch in Unterhosen und Stutzen da. Der Rest seiner Spielkleidung verschwindet als Trophäe unter den Supportern. Pulfer, dessen fussballerisches Highlight bis dahin der Ausgleich in der ersten Cup-Hauptrunde gegen den FC Kleinhüningen gewesen war, ist an der Spitze des kongolesischen Fussballs angekommen.
Kinkala, Madingou, Loubomo – an jedem Bahnhof auf der Rückfahrt präsentiert der Captain den Pokal der jubelnden Menge. Die wahre Triumphfahrt folgt aber erst in der Heimatstadt. Der Präsident steuert seinen Peugeot 404 durch die Menschenmassen, auf den Sitzen stehen der Captain und Pulfer und recken die Silberware hoch. «Ich kam mir vor wie ein kleiner Pelé», erinnert sich Pulfer verschmitzt lachend. Pelé hatte kurz zuvor seine Schuhe an den Nagel gehängt, und auch Pulfers Laufbahn war auf dem Höhepunkt schon fast wieder vorbei – genauso wie seine Zeit im Kongo. «Ich kam als Erster, und ich ging als Letzter der Frutiger-Angestellten.» So viel erlebt wie er hatte mit Sicherheit keiner von ihnen.
Türkyilmaz’ Geschenk
Nach seiner Rückkehr hilft Pulfer sogleich seinem Stammverein Pieterlen erfolgreich im Abstiegskampf. In der Heimat, am Tor zum Seeland, gibt es für ihn allerdings keine hundertfachen «Obosso»-Rufe mehr. Hier werden seine Aktionen höchstens von arhythmischem Klatschen begleitet, und wenn man über ihn spricht, dann spricht man vom «Kongo-Charly».
Später, viel später, darf «Kongo-Charly» die Atmosphäre noch einmal geniessen, vor über 30 000 Zuschauern einzulaufen. In nur drei Jahren brachte er es als Linienrichter bis in die Nationalliga A. Das Highlight seiner zweiten Karriere folgte indes erst 1993. Als Mitglied von Kurt Röthlisbergers Trio assistierte er beim Champions-League-Qualifikationsspiel zwischen Galatasaray und Manchester United. Aus seiner Tasche kramt er seine Erinnerung an diese Partie hervor: ein gelbes Trikot mit der Nummer 11 und einer Unterschrift, die fast ganz verblasst ist. Es ist diejenige von Galatasarays Kubilay Türkyilmaz. Das 0:0 reichte den Türken zum Weiterkommen. Diese Sensation markierte auch gleich den Schlusspunkt von Pulfers Zeit als Unparteiischer. Er hatte das Maximalalter für Linienrichter erreicht.
Doch noch immer lässt ihn der Fussball nicht ganz los. Heute ist Pulfer verantwortlich für den Schiedsrichter-Nachwuchs bei YB. Sieben müsste der Verein stellen, «wir haben elf!», wie er mit einigem Stolz anfügt. Dann fällt sein Blick auf das grüne, zerschundene Baumwolltrikot mit der Aufschrift «V. Club – R. P. Congo». Er verstummt, nimmt einen Schluck Mineralwasser. In seinen Gedanken flitzt er noch einmal die Linien des Stade Mvoulaleya entlang und hört die «Obosso! Obosso!»-Rufe. Seine Lippen formen sich zu einem Lächeln. «Ich würde alles nochmals genauso machen», schliesst «Kongo-Charly».