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Unerwünschter Boom

Nach dem Ersten Weltkrieg erlebte der Frauenfussball in England eine unglaubliche Blüte. Die Stadien waren voll, die besten Spielerinnen ­wurden zu Stars. Dann zog der ­Verband die Reissleine – aus Angst. Ein Artikel aus ZWÖLF 73.

Text: Mämä Sykora / Bilder: FIFA Musem

Das englische Wetter zeigt sich an diesem Tag von jener Seite, dank der es so berüchtigt ist. Den ganzen Tag schon schüttet es aus Kübeln, nur ein paar Grad weniger, und es würde schneien in Liverpool. Es ist der 26. Dezember 1920, Boxing Day, doch statt im Rahmen der Familie in der warmen Stube sind Scharen von Menschen auf dem Weg in Richtung Goodison Park. Sie wollen die neuen Sensationen im englischen Fussball sehen. Redford etwa, die Nummer 9 mit dem unglaublichen Torriecher. Oder Harris, bekannt für die feine Technik und die Dribblings. Und natürlich Parr, das 15-jährige Wunderkind mit dem knallharten Schuss. Wer zu spät zum Stadion im Westen der Mersey aufgebrochen ist, bereut das nun bitter: Nach 53 000 Eintritten werden die Tore geschlossen, es gibt schlicht keinen Platz mehr auf den Tribünen. Weiteren 14 000 wird der Einlass verwehrt. Die Partie, die das Stadion fast bersten lässt, ist jene zwischen den Dick Kerr Ladies und dem Saint Helens Ladies Team. Der Frauenfussball ist auf dem Höhepunkt angelangt – und gleichzeitig auch kurz vor dem Ende. Dafür werden Funktionäre sorgen, die den Männersport bedroht sehen.

Dass auch Frauen gegen den Ball treten, ist im selbst ernannten Mutterland des Fussballs kein Novum. Bereits 1881 trugen England und Schottland eine Reihe von Länderspielen aus. Während die Premiere das Publikum noch zu begeistern wusste, machten einige Zeitungen Stimmung gegen die kickenden Frauen. So schrieb der «Dundee Courier»: «Wir müssen im Interesse der öffentlichen Moral gegen diese Partien protestieren, die man kaum als anständig bezeichnen kann und deren einziger Zweck es ist, den Zuschauern die Shillings aus der Tasche zu ziehen.» Der Aufruf verfehlte seine Wirkung nicht, bereits die zweite Austragung in Glasgow endete unschön: Hunderte wütende Zuschauer stürmten den Platz, die Spielerinnen konnten sich gerade noch in den Bus retten, der noch mit Stöcken und Pfählen beworfen wurde. Zwei weitere Spiele auf dieser Tournee mussten frühzeitig abgebrochen werden.

Immerhin gab es einen Weg, damit Frauen auf dem Fussballplatz toleriert waren. Wurden die Matcheinnahmen nämlich für wohltätige Zwecke gespendet, gab es deutlich weniger Widerstand. Und so zog etwa der British Ladies Football Club ab 1894 über die Insel und sammelte mit Spielen Geld für Waisen, Arme und Krankenhäuser. Die Initiantinnen verfolgten mit ihrem Verein gewissermassen auch politische Ziele: In England kam zu jener Zeit die Debatte um das Frauenwahlrecht auf – Neuseeland und Australien hatten es bereits eingeführt –, und dafür weibelten die Initiantinnen auch mit ihrem Verein. Besonderes Interesse weckten Partien zwischen Frauen- und Männermannschaften, zumindest bis die englische Football Association (FA) ihren Klubs solche Spiele untersagte.

Durchbruch dank Weltkrieg

Schon um die Jahrhundertwende war Fussball in England enorm populär. Nahezu 10’000 Vereine existierten bereits, beim FA-Cup-Final zwischen Tottenham und Sheffield waren 112’000 Zuschauer im Stadion. Frauen indes waren nur wenige darunter. Denn Freizeit war für die meisten von ihnen ein unerschwingliches Gut. Sie arbeiteten als Bedienstete, in Fabriken oder in Baumwollspinnereien, und kaum hatten sie ihre langen Schichten beendet, warteten der Haushalt und die Kinder. Ihre Situation besserte sich paradoxerweise mit einem schrecklichen Ereignis: dem Ersten Weltkrieg.

Spätestens mit der allgemeinen Wehrpflicht 1916, als männliche Arbeiter an die Front abkommandiert wurden, rutschten Frauen in Jobs, die ihnen zuvor vorenthalten waren. Sie erhielten mehr Lohn, pflegten mehr Umgang untereinander, und endlich hatten sie auch ein wenig Freizeit. Besonders in den Munitionsfabriken, wo die Arbeit hart und gefährlich war, trafen sich die Frauen in den Pausen, um Fussball zu spielen. So auch in Preston im Nordwesten Englands bei Dick, Kerr & Company, einem Tram- und Lokomotivenhersteller, der in der Kriegszeit auf militärisches Material umstellen musste. Dort begann die Zeit der «munitionettes», die den Frauenfussball revolutionieren sollten.

Alfred Frankland, ein Büroangestellter bei Dick, Kerr & Company, ermutigte die Frauen, Charitymatches gegen andere Fabriken auszutragen. An Weihnachten 1917 sahen 10 000 Zuschauer den 4:0-Sieg über die Arundel Coulthard Factory, und die «Lacashire Daily Post» notierte wohlwollend: «Einige der Torschüsse hätten selbst einen Profi nicht blamiert, wenn man von der Richtung absieht. Die Offensiven waren in der Tat überraschend gut.» Sieg an Sieg reihten die Dick Kerr Ladies fortan in ähnlichen Spielen, deren Erlös zumeist Kriegsverwundeten zugutekam. Für jeden Auftritt erhielten die Frauen 10 Shilling, damals immerhin gut 15 Franken.

 

Maniküre für Pionierin

In Frankreich war man da bereits einen Schritt weiter. Alice Milliat, ein verwitwete Ruderin, gründete die Fédération des Sociétés Feminines Sportives de France, die nach Kriegsende eine Frauenliga ins Leben rief. Zwischen den Fussballerinnen der beiden Länder bestand ein reger Austausch, 1920 reiste eine französische Auswahl nach England, um sich mehrmals mit den Dick Kerr Ladies zu messen. Die Französinnen, die sich erst an die vielen Zuschauer und die grösseren Plätze gewöhnen mussten, steigerten sich kontinuierlich und konnten in der letzten von vier Begegnungen gar einen Sieg erringen. Feierlich wurde Alice Milliat nach dem Schlusspfiff der Matchball überreicht, der Verband der ehemaligen Seeleute und Soldaten, dem die Einnahmen gestiftet wurden, spendete ihr grosszügigerweise ein Maniküreset.

Weiterhin zogen die Dick Kerr Ladies – seit Kriegsende endlich auch wahlberechtigt – für Freundschaftsspiele durchs Land. Der Rummel nahm laufend zu. Oft führte eine Grösse aus dem Showbusiness das Anspiel aus, über die sehr gut besuchten Partien wurde in den Wochenschauen berichtet. Einige der Dick Kerr Ladies mauserten sich zu regelrechten Stars. Allen voran Lily Parr: Die gross gewachsene Flügelflitzerin war in Zeitungen und Magazinen präsent, über ihre gewaltige Schussstärke kursierten haufenweise Anekdoten. So soll sie bei einem Mixed-Spiel dem gegnerischen Profitorwart die Hand gebrochen haben. 43 Tore erzielte das Supertalent allein in ihrer ersten Saison für Dick Kerr.

Parrs Künste wollen denn auch die meisten Zuschauer im Goodison Park an jenem Boxing Day 1920 sehen. Wie immer laufen die Dick Kerr Ladies mit ihrem berühmten Dress auf: schwarze Socken, graue Shorts, schwarz-weiss gestreifte Trikots – und gestreifte Mützen. Die Erwartungen werden nicht enttäuscht: Parr und ihre Kolleginnen lassen Saint Helens keine Chance und siegen locker mit 4:0. Kurz darauf wird die English Ladies Football Association ins Leben gerufen, die Dick Kerr Ladies treten allerdings nicht bei. Sie lassen es sich aber nicht nehmen, die ersten Meisterinnen aus Stoke herauszufordern. Die Partie zwischen den Rivalinnen wird derart ruppig geführt, dass Lily Parr und ihre Gegenspielerin nach einer Prügelei des Feldes verwiesen werden.

Frauenfussball florierte auf der Insel, und nicht wenige waren der Ansicht, dass er zum festen Bestandteil in Englands Sportkultur werden könne. Doch just in dieser Blütezeit verfasst die FA einen verhängnisvollen Beschluss: «Nachdem Beschwerden über die Fussballspiele von Frauen eingegangen sind, fühlt sich der Rat verpflichtet, seine feste Überzeugung auszudrücken, dass das Fussballspiel für Frauen völlig ungeeignet ist und nicht gefördert werden sollte.» Mit sofortiger Wirkung verbietet der Verband seinen Vereinen, ihr Stadion für solche Partien zur Verfügung zu stellen. Was faktisch einem Frauenfussballverbot gleichkommt: Denn wo sollen die Dick Kerr Ladies nun noch antreten? Über die wahren Gründe des Entscheids kann nur spekuliert werden. Dass viele Profiklubs den Erfolg der Frauen als Bedrohung für ihre eigene Popularität sahen, ist nicht von der Hand zu weisen. Immerhin zog der Boxing-Day-Auftritt der Dick Kerr Ladies mehr Publikum an als der FA-Cupfinal im gleichen Jahr.

 

Niedergang ohne Heimat

Alfred Frankland, der noch immer als Manager amtet, wehrt sich mit Händen und Füssen. Er lädt 20 Ärzte zu einem Spiel ein, die zum Schluss kommen, dieser Sport sei nicht anstrengender, als einen Tag zu arbeiten oder Wäsche zu waschen. Vergeblich. Von den 150 bestehenden Frauenteams stellen die meisten ihre Tätigkeit bald ein. Die Dick Kerr Ladies freilich nicht: Sie brechen 1922 zu einer Nordamerika-Tournee auf, doch auch da treffen sie auf Widerstand. Der kanadische Verband untersagt ihnen Spiele auf seinem Boden, in den USA wollen die Frauenteams, zumeist Elite-Unis angeschlossen, nicht gegen diese Arbeiterinnen antreten. Stattdessen spielen die Dick Kerr Ladies gegen neun Männermannschaften, daraus resultieren je drei Siege und drei Unentschieden. Torwart Peter Renzulli vom Paterson FC erinnerte sich später: «Wir waren damals amtierender Meister, und wir mussten uns sehr anstrengen, um sie zu besiegen.»

In der Heimat dürfen die Dick Kerr Ladies nur noch auf besseren Äckern antreten. Nach Alfred Franklands Austritt aus der Firma benennen sie sich um in Preston Ladies FC. Bis ins hohe Alter organisiert Frankland noch Partien, doch es gestaltet sich immer schwieriger, unter diesen Umständen überhaupt Spielerinnen zu finden. 1965, nach über 800 Partien und erspielten Charity-Einnahmen von insgesamt über 120 Millionen Franken nach heutigem Wert, ist Schluss. Ein Jahr später wird England zu Hause Weltmeister und entfacht die Fussballeuphorie im Land neu. Davon profitieren auch die Frauen: 1971, 50 Jahre nach dem Verbot, werden sie auf Druck der UEFA wieder auf dem Rasen zugelassen. Der Zuschauerrekord der Dick Kerr Ladies, jene 53 000 am Boxing Day, hatte noch deutlich länger Bestand. Erst im März 2019 wurde deren Bestmarke für den Frauen-Klubfussball übertroffen – bei Atlético Madrid gegen Barcelona, auch weil viele Tickets gratis waren.

Lily Parr – Ikone des Frauenfussballs

Lily Parr, die noch mit 46 Jahren mittat, zuletzt als Torhüterin, erlebt das Wiederaufblühen des Frauenfussballs nicht mehr. Die lebenslustige Krankenschwester, die man oft mit einem Drink in der einen und einer Zigarette in der anderen Hand an der Seite ihrer Partnerin Mary gesehen hat, stirbt 1978 an Brustkrebs. Nach ihrem Tod wird sie zu einer Ikone der LGBT-Bewegung. Ihre Bedeutung für Englands Fussball wird erst später honoriert: 2002 wird sie als erste Frau in die English Football Hall of Fame aufgenommen, 2019 wurde eine lebensgrosse Bronzestatue von ihr im National Football Museum enthüllt. Natürlich setzt auch die Statue gerade zum Schuss an. Der war schliesslich so berühmt, dass er verboten werden musste.