Nicolás Andereggen, wohl bald neuer Stürmer beim FCZ, kommt eigentlich aus der Schweiz. Seine Vorfahren sind einst aus dem Wallis ausgewandert, er kann zu Ländler und Schottisch tanzen. Ein Artikel aus ZWÖLF 54, der Ausgabe vom Mai 2016.
Text: Christian Egli
Zurbriggen mit der Nummer 4 köpft den Ball aus der Gefahrenzone, und Andereggen, die Nummer 33, setzt zum Torschuss an. Ein klarer Fall von Regionalfussball im Oberwallis. FC Turtmann oder FC Brig-Glis? Mitnichten! Die direkten Gegenspieler von Santiago Zurbriggen hiessen im März Carlos Tévez und Diego Milito, zwei Figuren des Weltfussballs. Der 26-jährige Rechtsverteidiger mit Walliser Nachnamen hat mit seinem Club Unión de Santa Fe bereits mehr als 40 Spiele in der höchsten argentinischen Liga absolviert. In den letzten Wochen feierte er sensationelle Auswärtssiege vor 50’000 Zuschauern in der Bombonera der Boca Juniors oder beim Derby gegen den Stadtrivalen Colón. Seit 2009 hat er einen Profivertrag bei seinem Jugendverein.
Über 11’000 Kilometer trennen ihn, den in der argentinischen Pampa aufgewachsenen blonden Modellathleten mit blauen Augen, von der Bergwelt seiner Vorfahren. «Valesanos», Walliser, so werden die Bewohner von San Jerónimo Norte, einem kleinen Dorf in der nordöstlichen Provinz Santa Fe, noch immer genannt – und sie sind stolz auf ihre Herkunft. «Wenn ein nationaler TV-Kommentator mich als ‹Valesano› bezeichnet, freut sich das ganze Dorf», erzählt Zurbriggen. Die Schweiz und das Wallis sind omnipräsent, nicht nur aufgrund der Strassen, die hier nach Wilhelm Tell oder Bartolome Blatter benannt sind. Das Möbelgeschaft heisst Zurschmitten, die Zenklusens handeln mit Autos, und Brot kauft man bei der Familie Eggel. Zahlreiche Schweizer Wappen und Fahnen zieren die Hauser und die öffentlichen Plätze, fein säuberlich direkt neben der himmelblauen Argentiniens platziert.
Um Hunger, Armut und Aussichtslosigkeit zu entfliehen, teilweise gar unter behördlichem Zwang, verliessen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rund 14’000 Walliser ihre Heimat und suchten ihr Glück in Amerika. Die Schweizer Auswanderer haben inzwischen in Südamerika mehrere Hunderttausend Abkömmlinge hinterlassen, allein 50’000 im kleinen Uruguay, über 300’000 im benachbarten Argentinien. Einen Schweizer Pass besitzt kaum mehr einer von ihnen.
Auch Santiago Zurbriggen und Nicolás Andereggen gehören nicht zu den hundert Schweizer Bürgern im 7000-Seelen-Dorf San Jerónimo Norte. Andereggens Eltern haben den Antrag kürzlich gestellt, Zurbriggen versuchte es bislang vergebens: «Meine Mutter hat es mehrfach versucht, doch leider klappte es mit dem Bürgerrecht meiner Vorfahren nicht.» Seine Familie bemüht sich nun um den italienischen Pass. Die Italiener sind bei der erleichterten Einbürgerung für die Nachkommen von Einwanderern offener und flexibler.
Mit der Schwester zu Tanz
Die Bande zur Heimat der Vorfahren wird trotzdem sehr gepflegt. Viele sind aktiv in Schweizer Clubs, in Schiess-, Trachten- und Volksmusikvereinen, und fühlen sich unserem Land sehr verbunden. Zu sehen, mit welcher Inbrunst diese Abkömmlinge der fünften oder sechsten Generation für die Werte, Sitten und Traditionen einstehen, die viele Schweizer nur noch vom Hörensagen oder vom Ballenberg kennen, ist eindrücklich und regt zum Nachdenken an.
Die heutige Schweiz ist zweifelsohne eine andere. Als Besucher ist man gut beraten, das Spiel der heilen, sauberen und geordneten Heidi-Schweiz mitzuspielen. Spätestens aber, wenn man an einem der unzähligen Musikfeste oder Strassenumzüge zum Tanz gebeten wird und sich zu einem Schottisch bewegen sollte, steht der Gast aus der «Original»-Schweiz unter einem Meer aus Schweizer Kreuzen und Kantonswappen meterweit im Abseits – und dies wortwörtlich.
Zurbriggen, Liebling der Medien und Objekt der Begierde der weiblichen Fans im ganzen Land, erzählt mit Stolz, dass er bis ins jugendliche Alter mit seiner Schwester zu Tanz gegangen sei. Auch für den pubertierenden Nicolás Andereggen sind die familiären Tanzreisen eine Selbstverständlichkeit. Die Lautstärke der Ländlermusik – hier oftmals durch dominante Elemente aus Bayern oder Tirol verzerrt – und die Freudenschreie der in Kantonstrachten gekleideten Tanzenden verunmöglichen tiefgründige Gespräche.
Auch die Sprache ist ein Hindernis: Mitten in der argentinischen Pampa wird noch ursprüngliches Wallisertiitsch gesprochen. Die Liebe zur Schweiz und der Stolz, das Erbe ihrer Vorfahren zu pflegen, sind aber unmissverständlich. In den Kolonien lebt man alle Klischees der Schweiz, und sie sind allesamt positiv belegt.
Der Stolz der Valesanos
Mit Ruhe und Ordnung kann es aber schnell vorbei sein, denn der argentinische Fussball-Fanatismus macht auch vor dieser Region nicht halt. Wenn sich an den Spieltagen die Provinzhaupt Santa Fe rot-weiss (Unión) oder schwarz-rot (Colón) färbt und die Fans singend durch die Strassen ziehen, kommt dies einem Barbareneinfall gleich.
Gästefans sind in Argentinien zwar längst nicht mehr erlaubt, dennoch müssen Spiele unter- oder abgebrochen werden. So etwa das letzte Derby, als sich die Defensivabteilung um Zurbriggen zusatzlich gegen Steinwürfe verteidigen musste. Das macht ihm Sorgen: «Mich als Spieler schmerzt diese Entwicklung. In Argentinien leben aber viele Fans nur für den Fussball.» Auch sein Heimatstädtchen ist in zwei Fanlager geteilt. Zuspruch erhält der Union-Spieler aber sogar vom gegnerischen Lager. So stolz sind die Valesanos auf ihren Santiago. In San Jerónimo Norte kennt man sich eben – oder ist gar verwandt miteinander.
Schweizer Kolonien wie Nueva Helvecia in Uruguay, Novo Friburgo in Brasilien oder eben San Jerónimo Norte sind Ursprung der Milchwirtschaft und der Käseproduktion in diesen Ländern, wie anhand der Milchkannen auf den Ortswappen unschwer zu erkennen ist. Auch Fussballer hat die Schweizer Gemeinde vereinzelt hervorgebracht. Zurbriggen erwähnt unverzüglich Guillermo Imhoff, ebenfalls aus San Jerónimo Norte, der unter anderem ein kurzes missglücktes Gastspiel beim FC Sion gab. Die grosse Ausnahme ist jedoch bis heute Néstor Clausen, 1986 Weltmeister mit Argentinien, Cupsieger und Meister mit dem FC Sion 1991/92, ebenfalls aus der Provinz Santa Fe, wohin die Familie Clausen aus Ernen (VS) zog.
Ähnliches prophezeit man dem erst 16-jährigen Nicolás Andereggen. Der argentinische Fussballverband führt den Mittelsturmer auf einer Liste der grössten Talente des Landes. Fur ihn ist denn auch der grösste Traum, eines Tages für die Albiceleste aufzulaufen. «Den 7. November 2015 werde ich nie vergessen», schwärmt Nicolás und bezieht sich dabei auf sein Debüt für Unión Santa Fe in der höchsten Liga, das ihn zum jüngsten eingesetzten Spieler der Klubgeschichte machte. Mit einem Profivertrag bis 2020 ausgestattet, schiesst sich der mit einem besonderen Torriecher und einer aussergewöhnlichen Schnelligkeit ausgestattete Jüngling bei der Nachwuchsmannschaft warm; er soll behutsam in das Fanionteam integriert werden. Mit einer Quote von einem Tor pro Spiel empfiehlt er sich dem Trainerstab erneut für Kurzeinsätze zum Saisonende.
Den Schweizer Fussball im Visier
Ein Zurbriggen oder ein Andereggen aus San Jerónimo Norte in der Super League oder in der Schweizer Nati? Heutzutage ist das wohl gleich exotisch, wie Wallisertiitsch inmitten der argentinischen Pampa zu hören. Für die Familien, für die stolzen Nachbarn, für die ganze Walliser Kolonie in Südamerika würde ein Traum in Erfüllung gehen. Beide Spieler bestätigen, dass sie den Fussball aus der Schweiz verfolgen. In der Tat hatte der Constantin-Club die Walliser Kolonien in Argentinien auf dem Radar und schickte 2009 den Chef des Ausbildungszentrums ans internationale Juniorenturnier nach San Jerónimo – treffend «Valesanito», kleiner Walliser, genannt.
https://twitter.com/clubaunion/status/1083866028822749184?s=19
Nicolás war damals noch zu jung, Santiago hingegen bestätigt, dass er vor Jahren Kontakt mit einem Spieleragenten des FC Sion hatte. Zurbriggen, der von seinem aktuellen Trainer polyvalent auf sämtlichen Verteidigerpositionen eingesetzt wird, schielt seit Januar noch mehr auf die Schweizer Fussballplätze. Sein ehemaliger Teamkollege bei Unión, Leonardo Sánchez, verteidigt beim FCZ. Dies hilft Zurbriggen auch einzuschätzen, ob seine Qualitäten dem Niveau der Super League entsprechen. Der bescheidene und ruhige 26-Jährige zweifelt nicht daran. Doch wieder kommt die Passfrage ins Spiel: In vielen Ligen bestehen Einschränkungen für Spieler aus dem Nicht-EU-Raum. Sánchez hingegen ist auf dem Papier auch Italiener. Ironischerweise kleidet sich dieser bestimmt nicht wie «unsere argentinischen Walliser» in eine Tracht und defiliert singend und stolz durch die Strassen seines Heimatdorfes.
Kaum jemand identifiziert sich mit der Heimat ihrer Vorfahren wie die Valesanos in der argentinischen Pampa. Dass sie in einem Fussballmagazin in der Schweiz erscheinen werden, fanden Nicolás Andereggen und Santiago Zurbriggen faszinierend. Als hätten sich die beiden abgesprochen: «Wir sind stolz, und es ist uns unglaublich wichtig, dass man uns auch in der Schweiz wahrnimmt.» Ehrlicher können Worte nicht sein.
Dieser Artikel erschien in ZWÖLF #54, der Ausgabe vom Mai 2016. Er ist auch im ZWÖLF-Lesebuch zu finden, das ihr hier bestellen könnt.