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In Lauerstellung

Als Trainer möchte sich der Nati-Rekordtorschütze einen neuen Ruf erarbeiten. Wenn ein Alex Frei das will, dann kann das ein Alex Frei auch. Ein Porträt aus ZWÖLF #84 (Mai 2021, damals war Frei noch beim FC Wil).

Text: Christian Zürcher; Bilder: Milad Ahmadvand

Ach, diese Geschichte! Alex Frei winkt ab. Nein, wirklich! Schon so lange her.

Die Geschichte stimmt also. Zugetragen hat sie sich vor ein paar Jahren bei den Senioren des SC Dornach. Die Gegner klopften Alex Frei auf die Finken, einmal, zweimal, dreimal. Sie machten das so gut, dass Frei erst hässig und dann sehr hässig wurde, sich beim Schiedsrichter beschwerte, Karten forderte, wieder und wieder, stets vergeblich. Irgendwann hatte Frei genug und teilte dem Spielleiter in aller Kürze mit, dass er nun die Karte zücken könne. Frei holte Anlauf und grätschte den Gegner um. Der Schiedsrichter zückte die Karte und stellte ihn vom Platz.

Alex Frei grätscht als pensionierter Profifussballer einen Hobbyfussballer nieder. Er fühlt sich nicht respektiert – und lässt das andere spüren. Im Grunde eine Zusammenfassung seines Spielerlebens. Der Verbissene und Missverstandene. Ein Mensch, der eine Karriere lang von anderen gedeutet, ja definiert wurde. Nicht sonderlich talentiert, sehr ehrgeizig, ein Typ. Alex Frei war eine Karriere lang die Reduktion einer Person.

Heute ist Alex Frei Trainer. In den Köpfen vieler Menschen aber ist er noch immer der Fussballer von damals. Es würden aber immer weniger, die so dächten, erzählt Frei. Wenn man so will, dann ist dieser Frei gerade daran, sich von seiner Vergangenheit, von seinem alten Ich zu emanzipieren. Geht das? Kann er das?

 

Ein Abend Mitte März. Wil spielt gegen Winterthur. Fans sind keine zugelassen, den Klubfunktionären und Journalisten wird Punsch ausgeschenkt (2 Franken der Becher) und Wienerli verkauft (4 Franken das Paar), als Torlied dient in Wil «Grüezi wohl, Frau Stirnimaa!». Für Frei passt das zum Arbeiterklub FC Wil, und darum passt er zum FC Wil.

Frei kommt kurz vor Anpfiff aus der Kabine. Die Kälte rötet ihm die Wange, die Kappe hat er sich tief ins Gesicht gezogen, die Jacke hat eine Grösse, die ihm die guten Proportionen nimmt, leicht gebückt beobachtet er das Spiel. Einmal hat die «Weltwoche» vom Geissenpeter in Stollenschuhen gesprochen – das war fies.

Frei sitzt zu Beginn des Spiels mehr, als er steht, und wenn er steht, dann gibt er seinen Spielern mit verschränkten Armen mit: Bravo, sehr gut, weiter so. Fehlern begegnet er gelassen (das wird sich ändern). Es ist kein wahnsinnig gutes Spiel, vor allem kalt, ein unfreundlicher Abend.

Unmögliche Interviews
Als Fussballer hat Frei nach Spielen schlecht geschlafen, nur drei, vier Stunden. Nach solchen Partien am nächsten Tag ein Interview mit ihm zu führen, gehörte im abendländischen Sportjournalismus zu den schwierigeren Aufgaben.

Als Trainer ist Frei am nächsten Tag locker drauf. Aus 30 Spielen als Chef resultiere mittlerweile eine schlaflose Nacht, erzählt er auf der Geschäftsstelle des FC Wil. Es ist eine neue Qualität in seinem Leben. Jahrelang musste er sich beweisen und mit dem Gefühl ringen, nicht zu genügen. Nun darf er mit Wil verlieren. Womöglich eine allzu einfache Erklärung – doch Alex Frei schläft plötzlich gut.

Im Gespräch kann man ihn triezen. Ein Provokatiönchen («Das war nicht wirklich ein gutes Spiel?»), eine Stichelei («Ist Wil nicht zu klein für Sie?») – Frei bleibt cool. Früher konnte er bei einem «Wie geht es Ihnen?» explodieren. Er sah in der Frage auf ihn gerichtete Flinten und eine Andeutung darauf, zu wenig Tore geschossen zu haben.

Er las damals Zeitung wie kein anderer. Er liess sich als Nationalspieler jeweils zehn verschiedene Blätter auf das Zimmer bringen und wusste genau, was die Leute über ihn dachten. Frei war einmal der Traumschwiegersohn (lacht laut auf), ein andermal der Mann mit dem kümmerlichen Brustkorb («jä»), dann der Ehrgeizling («das stimmt sogar ein bisschen») und irgendwann der Spaltpilz (er schweigt). Manche Psychogramme haben ihn getroffen.

Frei hat stets von sich ein Bild gemacht. Wenn er von sich erzählte, war das oft auch eine Identitätssuche in der dritten Person. Alex Frei sprach vom Alex Frei und noch mehr vom Frei Alex. Das klang seltsam und legte eine sonderbare Distanz zwischen Alex Frei und Frei Alex, was wiederum Fragen psychologischer Natur provozierte.

Nun macht er sich als Trainer ein Bild von seinen Spielern. In Wil sind die meisten jung und irgendwo in ihrer jungen Karriere aufgelaufen (wie Frei damals in Basel). In Wil starten sie neu (wie Frei damals in Thun). Frei ist Entwicklungshelfer. Menschenführung, das weiss er, ist als Trainer ganz wichtig.

Anruf bei Ottmar Hitzfeld, dem einstigen Welttrainer, dem so kontrollierten Mann, dem ob dieser Selbstkontrolle irgendwann Magengeschwüre wuchsen. Frei bezeichnet Hitzfeld als «Mentor», Hitzfeld Frei als «Kollege». Die beiden reden regelmässig miteinander. Als es für Wil im Herbst kaum Siege gab, erzählte ihm der ehemalige Nationaltrainer ein paar Dinge über das Krisenmanagement. Bloss nicht überreagieren und mehr trainieren lassen, lieber positive Aspekte hervorheben. Es half, Wil gewann wieder. Frei habe gute Voraussetzungen, um ein erfolgreicher Trainer zu werden, sagt Hitzfeld: «Der Alex ist sehr fussballverrückt, kennt das Geschäft und ist psychologisch geschickt.»

Was macht einen guten Trainer aus? Hitzfeld könnte nun von einer Spielidee sprechen, von taktischer Intelligenz oder Charisma, er sagt bloss: «Er muss mehr gewinnen als verlieren.» Was ist besonders wichtig? «Authentizität. Geduld. Und die Menschenführung, vor allem das.» 25 Spielern das Gefühl zu geben, dass sie alle gebraucht würden, sei eine grosse Aufgabe. Hitzfeld konnte das wie kaum ein Zweiter. Kann Frei das?

Die neue Generation entdecken
Der Wil-Trainer liest gerne Bücher und Artikel über die Generation Z. Er teilt die Spieler in Stärken- und Schwächenprofile ein, er will von ihnen Analysen über die Spiele hören, er möchte sie ins Boot holen. Hochinteressant sei die Arbeit, die Persönlichkeitsstruktur der Jungen eine völlig andere als die seine. «Sie haben manchmal das Gefühl, dass sie mit wenig Aufwand viel erreichen können. Zudem sind immer andere Schuld, bei der Resilienz stelle ich mir schon Fragen.» Er findet: Die Jungen sind zu bequem. Alex Frei sieht darin Verschwendung, er selbst hat in seiner Karriere kaum etwas verschwendet, schon gar kein Talent. Spieler Frei war ein Maximierer, die Jungen seien Minimierer. Trainer Frei will ein Optimierer sein.

 

Der 41-Jährige stellt ihnen immer wieder künstliche Hindernisse in den Weg. Er pfeift im Training konsequent kein Foul und beobachtet, wie der Benachteiligte damit umgeht. Er lässt ein Talent ein Wochenende zu Hause und schaut, wie es reagiert. Andy Egli hat das mit ihm in Luzern gemacht. Er setzte ihn, den Captain der U21-Nationalmannschaft, auf die Bank. Das konnte der junge Frei nicht verstehen. Er gab darauf der «Luzerner Zeitung» ein Interview, in dem er erstens einen Stammplatz forderte und zweitens Mitspielern Neid und fehlende Anerkennung vorwarf. Es gibt im Fussball nicht viele Sakrilege, Frei schaffte drei auf einmal. Den Trainer kritisieren, die Mitspieler anschwärzen und das Ganze in der Öffentlichkeit. Muss man erst einmal hinkriegen. Das Anderssein hat Frei weit gebracht. Und manchmal stand es ihm im Weg.

Egli versetzte ihn darauf in den Nachwuchs und liess ihn einen Aufsatz schreiben, drei Seiten lang: «Wenn ich meine, ich wäre jetzt ein Star, dann werde ich nie ein Star.» Frei erinnert sich daran, lacht laut auf und sagt: «Bei mir müssen meine Spieler keine Aufsätze schreiben.»

Sie müssen aber liefern. Frei will, dass sie sich zerreissen. In jedem Training, jedem Spiel. Alles andere könne er nicht kontrollieren, wolle er auch nicht. Frei hat mitbekommen, wo seine Spieler einen grossen Teil ihrer Freizeit verbringen: in den sozialen Medien. «Es hat etwas von einer Parallelwelt. Sie richten ihr Leben danach aus und suchen darin Anerkennung. Was ist denn das, wenn du nach jedem Match ein Foto auf Instagram hochlädst? Macht man das für die Fans? Schissdreck! Sie machen das für sich. Diese stete Jagd nach Likes – das finde ich schlimm.»

Anerkennung – auch damals
Man möchte Frei mitgeben, dass er als Spieler gar nicht so unähnlich war. Auch er sehnte sich nach Anerkennung, bloss war damals die Währung noch keine Likes. Sondern Bilder und Schlagzeilen. Darum hat sich Frei ein Spielerleben lang in Szene gesetzt und Bühnen gebaut. Am auffälligsten war das bei seinem vierzigsten Länderspieltor gegen Lettland. Marco Padolino sprang zu ihm, um sich mit ihm zu freuen. Frei schubste ihn weg, er wollte den Moment für sich. Machte er das für die Fans? Schissdreck!

Wie hat sich das bei ihm über die Jahre verändert, die Anerkennung? «Zum Teil habe ich sie als Spieler zu viel gesucht. Das muss ich zugeben. Das hat mir auch geschadet.» So offen Frei darüber redet – es folgt irgendwann ein Aber. Er habe schon sehr viel abbekommen. Frei zählt auf, dass er in Frankreich Zweiter und Erster der Torschützenliste wurde, Zweiter in Deutschland, zweimal Erster in der Schweiz. «Da fragte ich mich schon, was denn die Leute noch von mir wollen? In der WM-Qualifikation war ich bei den Torschützen auch immer vorne dabei.» Nun spricht Frei in Grossbuchstaben. «WAS SOLL ICH DENN NOCH MACHEN, DAMIT IHR MEINE LEISTUNG RESPEKTIERT?» Dann fügt er hinzu – die Buchstaben sind wieder kleiner geworden: «Heute wäre ich viel distanzierter zum Business.»

Das schliesst auch das Verhältnis zu den Journalisten ein. Das war immer ein besonderes, ein Auf und Ab, man war aufeinander angewiesen, hat sich immer wieder gerieben. Er stand beim 50. Geburtstag eines Journalisten als Überraschungsgast hinter den Grill. Er faltete andere Berufskollegen vor versammelter Schar zusammen. «Beides würde ich heute so nicht mehr machen.»

Trainer sind abhängig von ihren Spielern, ihr Einfluss auf das Spiel ist beschränkt. Kann einer wie Frei damit umgehen? Er, der sich als Spieler kaum Fehler verzeihen konnte. «Kein Problem.» Frei hält wenig davon, wenn man vom Spieler auf den Trainer schliesst. Vielleicht weil er sich als Spieler kennt, vielleicht weil er weiss, wo das Ganze hinführt.

Beni Huggel hat lange mit Frei gespielt, in der Nationalmannschaft und in Basel, zuletzt bei Dornach als Senior. Als Spieler habe dieser nie wie ein Trainer gedacht, erzählt Huggel. Wichtig war für Frei einzig, wie er zu Ball und Tor kam. «Wie der Ball erobert wird, wie Angriffe ausgelöst werden, das hat ihn nie gross interessiert.» Trotzdem bringe Frei viele Komponenten für einen guten Trainer mit. Glaubwürdigkeit, Wille, Erfahrung mit dem Geschäft, solche Dinge. Huggel traut Frei den Durchbruch als Trainer zu.

Ein, zwei Fragezeichen gebe es aber. «Geduld war bisher nie eine seiner Stärken», sagt Huggel. «Diese braucht ein Trainer, er muss auf seine Chance warten, nicht den erstbesten Job annehmen. Ich weiss nicht, ob er das kann.» Zudem helfen die Emotionen, die man als Spieler erlebte, nicht unbedingt als Trainer.

Als Spieler hat Frei immer mehr gemacht als andere. Er hat stundenlang Freistösse getreten, am Abend die Flutlichter eingeschaltet, damit er noch Direktabnahmen üben konnte. Hoch, tief, Hauptsache im Tor. Nun ist er Trainer. Kann man mit Fleiss ein guter Trainer werden? «Natürlich! Fleiss überträgt sich auf die Mannschaft.» Sie spüre, ob man eine Trainingsplanung macht (er macht es). Sie merke, ob du vier Stunden vor dem Spiel im Stadion bist oder nicht (er ist es). Frei hat ein Arrangement mit einem Wiler Hotel getroffen, damit er nicht jeden Abend nach Biel-Benken zurück muss und am Morgen früher da ist. Er zahlt das aus dem eigenem Sack («natürlich!»).

Frei hat eine Karriere lang die Trainings seiner Trainer dokumentiert und nachgezeichnet. Erst von Hand, dann am Computer. Er wusste immer: Irgendwann werde ich Trainer. Trotzdem war er zwischenzeitlich noch Sportchef in Luzern und Verwaltungsrat in Basel. Es gibt wenig, was sich Frei nicht zutraut. Als Basel vergangenen Sommer einen neuen Trainer suchte, war er interessiert. Man hat sich nicht gefunden.

Plötzlich keine Verben mehr
Das Spiel in Wil ist in der Endphase angekommen. Freis Auftreten hat sich verändert, die Coolness ist ihm abhandengekommen. Er rumpelstilzelt nun an der Seite auf und ab. Man darf festhalten, dass dieser Frei sehr laut schreien kann. Bei Ballverlusten verjagt es ihn in regelmässigen Abständen. «Ich drehe durch.» Bumm! Ein ziemlich heftiger Hieb gegen das Dach der Spielerbank. – «Seid ihr eigentlich irre?!» – «Jetzt hab ich die Schnauze voll!» Bumm. Wieder das Dach. Dann ein Wiler Angriff mit einer miserablen Flanke. «Flach! Flaaaaaaaach! Flach!» Unversehens gerät Frei in einen Zustand, in dem ihm die Verben abhandenkommen. «Haaaa!», «Hoooo!», «Jaaaa!», «Neeeeiiiii!»

Am Tag danach erzählt er, wie er gespürt habe, dass die Mannschaft Unterstützung brauche. «Ich wollte Emotionen ins Spiel bringen.» Er versuche mit diesen bewusst zu spielen, er wolle kein Kartoffelsack sein, aber auch kein Hampelmann. Nicht immer geht das auf, kürzlich wurde er wegen unpässlichen Verhaltens für ein Spiel gesperrt. Alex Frei ist nicht stolz darauf, er will Vorbild sein.

Andy Egli hat es noch angekündigt. «Der Alex wird immer Emotionen zeigen. Er wird als Trainer Sachen machen, bei denen der eine oder der andere den Grind schüttelt. Am Spielfeldrand ausrasten zum Beispiel.» Frei findet, er habe bisher noch nie die Contenance verloren, nie den Schiedsrichter beleidigt, keine Flasche geworfen. Da habe er schon Welttrainer gesehen, die viel verrückter getan hätten, da müsse er sich doch nicht wegen eines Ausrasters verteidigen. «Wichtig ist sowieso das Authentisch-Sein: Ich werde immer mich selbst bleiben.» Manche hören aus diesem Satz eine subtile Drohung.

 

Andy Egli findet den Trainer Frei ein spannendes Projekt, er bringe alles mit, um ein guter Trainer zu werden. Doch Frei müsse sich noch finden, in Sachen Spielstil, aber auch in Bezug auf die Kanalisierung der eigenen Emotionen. «Ich weiss, dass er sich hier helfen lässt.»

Tatsächlich hat Frei Mentoren wie Hitzfeld, die ihn spiegeln. Nach seinem Aus als Sportchef in Luzern hat er sich einen Coach genommen, es ging um die Work-Life-Balance. «Meine Familie darf nie unter meinen Ambitionen leiden», sagt er. Die Arbeit mit dem Coach war gar nicht so einfach für Frei. «Man muss sich darauf einlassen», sagt er. «Achtung!», ruft er. «Du musst über den eigenen Schatten springen. Ich musste lernen, die Hosen runterzulassen.» Er meint: über seine Schwächen reden. Machte er lange nicht.

Vielleicht ist das der neue Alex Frei, gelassen und selbstkritisch, reflektierter als auch schon. Er wird an diesem Tag nie vom Frei Alex in der dritten Person reden, nie verbissen wirken. Er gehe es nun ruhiger an, die Zeit in Wil tue ihm gut. Ewig hält aber ein Frei diesen Zustand nicht aus. Das ist im Gespräch spürbar, selbst mit Sicherheitsabstand. «Ich werde weiterhin meinen Ehrgeiz und meine Ambitionen haben, keine Angst.»

Frei greift an. Auch weiterhin.