Ein bisschen zu weich
Die Schweiz verschenkt ihr Herz prinzipiell nicht an Poeten. Bei Alain Sutter machte sie eine Ausnahme. Sie sollte es später bereuen. Denn Alain Sutter wollte kein Nationalheld sein. Er wollte nur spielen.
Erschienen in ZWÖLF #19, Juni/Juli 2010
Text: Christoph Lenz, Bild: Flòriàn Kalotay
Raststätte Würenlos. Hier will er reden. Ein Restaurant, nein, ein Raumschiff, schwebend über einer sechsspurigen Autobahn. Einer jener Orte, wo alle schon wieder weitergehen, wenn sie angekommen sind. Wo niemand etwas anderes will als Most oder Zigis. Wo sich keiner umdreht nach einem wie ihm, weil auch drinnen noch die Regeln von draussen gelten: Sei schnell und schaue niemals zurück.
Das passt zu ihm: dass er sich dort am wohlsten fühlt, wo er unerkannt bleibt. 20 Minuten vor dem vereinbarten Termin hat er sich hinter einem Zeitungsständer im Kiosk verschanzt, fährt mit der Hand unentschlossen über die Magazine und späht zwischendurch zum Souvenirshop hinüber. Natürlich, die Gefahr, entdeckt zu werden, ist hier kleiner als in einer Szenebeiz. Aber Alain Sutter geht lieber auf Nummer sicher.
Dazu passt auch der Zehntagebart. Man erkennt Alain Sutter kaum. Nur die Augen sind so blau wie immer. Er neigt den Kopf zur Seite, dann holt er Luft. Nein, er verstecke sich nicht, habe nichts zu verbergen. Er rasiere sich einfach ungern. Deswegen trage er jetzt halt einen Bart.
Und weil Alain Sutter jeden Zweifel ausräumen will, dass man das jetzt auch wirklich verstanden hat, sagt er es noch ein zweites Mal, mit einer neuen Satzstellung. Ein Missverständnis also, ein weiteres.
Aber darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an. Die Schweiz hat diesen Alain Sutter ohnehin noch nie verstanden. Sicher, sie hat ihn geliebt, heisser als je einen anderen Fussballer. Aber was hat Sutter gemacht? Er hat die Liebe verschmäht, ist abgehauen, untergetaucht, desertiert. Wenn er jetzt dann wieder im Schweizer Fernsehen erscheint, als Fussballexperte zur Weltmeisterschaft, und sich die Leute aufregen über ihn, seine Frisur, seinen Dialekt und seine Sprüche, ist es einmal mehr erwiesen: Die Schweiz ist immer noch ein bisschen beleidigt.
«Meinetwegen», sagt Alain Sutter. Die Missverständnisse stören ihn nicht mehr. Er hat sich damit abgefunden. Punkt.
Ganz aufrecht sitzt er da, hochkonzentriert. Alain Sutter wartet schon auf die nächste Frage. Man soll wissen, dass man es mit einem Profi zu tun hat.
Neurotisch oder schwul?
Klar, er war ein Sonderling. Aber eben immer auch ein Profi. Vielleicht sogar mehr als alle seine Kollegen. Er hat immer gewusst, was gut für ihn ist, was er braucht, um seine Bestleistung abzurufen. Wo seine Mannschaftskameraden nach den Spielen noch um die Häuser zogen, ging er früh zu Bett. Wo seine Mitspieler mit sexuellen Ausschweifungen für Schlagzeilen sorgten, blieb er seiner Melanie treu. Gerade mal zwei Freundinnen hatte er in seinem Leben, und das lag nicht am mangelnden Interesse der Damenwelt. Während andere Fussballer rauchten und soffen, ernährte er sich sehr bewusst. Viel Gemüse, viel Rohkost, wenig Fleisch.
Uli Hoeness hat getobt, als er davon erfuhr. Das war 1994 im Agrarstaat Bayern, bei einem Volk, das dann am meisten bei sich ist, wenn es irgendetwas auf den Grill spannen kann. Einen Ochsen, eine Wildsau, in der Not auch nur ein Ferkel. Vegetarier jedenfalls waren damals entweder neurotisch oder schwul. «Ein Spieler, der kein Fleisch isst, kann auf dem Platz keine Leistung bringen», dröhnte Manager Hoeness, der ja wissen muss, wie sehr der Fussball mit dem Fleisch zusammenhängt. Immerhin hatte Hoeness nach seiner Sportkarriere in Nürnberg eine erfolgreiche Wurstwarenfabrik aufgebaut. Sutters Ernährung führte zur Machtprobe bei Bayern München. Sutter gegen Hoeness. Sutter weigerte sich, mehr Fleisch zu essen. Da sass er halt auf der Bank.
Er passte einfach nicht
Und da gibt es noch eine andere Geschichte aus jener Zeit, sie spielt am Oktoberfest. Von den Fussballern des FC Bayern München wird ja eigentlich gar nicht so viel verlangt: Ende Saison ein Titel und Anfang Saison ein Auftritt auf der Wiesn, mit Lederhosen und einem aufrechten Durst. Auch da musste Alain Sutter ausscheren. Nicht wegen der Lederhosen, sondern wegen des Biers. Alain Sutter rührte keinen Alkohol an. Als die Mannschaft auf den Festbänken Platz nahm, bestellte sich der Schweizer ein Wasser. Schlimm genug eigentlich. Aber wie ihm die Pressefotografen später fürs Bild einen Humpen reichten, da weigerte er sich standhaft, ihn zu ergreifen. Das muss man sich mal vorstellen: Da verschmäht einer die Wirtshäuser, die Weiber, das Vieh und dann auch noch das Bier. Also eigentlich alles, was dem Bayern nebst der Kirche heilig ist. Eine Beleidigung war das, eine Riesensauerei. Schon damals hätte allen klar sein müssen, dass Alain Sutter diesen Klub und diesen Staat eher früher als später wieder verlassen würde. Es passte einfach nicht. Nein: Er passte einfach nicht.
Aber hat denn dieser Alain Sutter überhaupt jemals irgendwo hineingepasst? Gut, auf der Bodenweid, da war es ihm wohl.
Zürich–Bern retour
Zwölf Jahre lang hatte er hier, zwischen Bahngleisen, Industriehallen und Autobahn, für den SC Bümpliz den Ball getreten. Dann kam Timo Konietzka und holte ihn zu den Zürcher Grasshoppers. 1985 war das. Alain Sutter, 17-jährig, galt als Sensation im Schweizer Fussball, der sich damals gerade beweisen wollte, dass man auch hierzulande etwas von Nachwuchsförderung versteht. «Der erste Fussballlehrling der Schweiz», hiess es. Sutter, ein «Jahrhunderttalent», einer, der diesem Geschäft guttue – ein bisschen zerbrechlich zwar, ein bisschen weich, aber eben auch unheimlich begabt. Er sollte dieses Land fussballerisch rehabilitieren nach den finsteren zwei Jahrzehnten seit 1966.
Alain Sutter erhielt bei GC einen Profi-Vertrag, wurde warmherzig empfangen, verdiente nicht schlecht. Aber damit fing es eben an. Mit dem Geld stiegen die Erwartungen. Alain Sutter durfte nicht mehr, er musste. Und weil er musste, konnte er nicht mehr. Der Trainer, der Präsident, der Captain, die Fans – alle sagten ihm, er müsse sich zusammennehmen, sich durchbeissen. Aber beissen wollte er nicht und in Zürich bleiben ebenso wenig.
Nein, Alain Sutter wollte nach Hause. Entweder nach Bern, zu den Young Boys, bei denen auch sein Bruder René unter Vertrag stand. Oder grad richtig heim, zurück zum SC Bümpliz, zurück auf die Bodenweid. Da er vermutete, dass ihn GC nicht einfach so würde ziehen lassen, drohte Sutter dem Vorstand mit dem Äussersten: Notfalls würde er sich reamateurisieren lassen. Der erste Fussballlehrling der Schweiz, der schon mit 18 Jahren stolze 36 000 Franken jährlich verdiente, wollte tatsächlich hinschmeissen. Warum? Er ertrug es nicht, so fern zu sein von seiner Familie. Auch der Druck machte ihm zu schaffen, der Verein, die Professionalität. Kurzum: Es passte nicht.
Wie ein kleines Kind
Alain Sutter lehnt sich zurück. Er tut etwas, was er nicht oft macht. Er lacht. Ein Spielchen sei das gewesen, sagt er. «Ich wollte unbedingt weg von GC. Ich dachte, ich müsse ausdrücken, was ich fühle. Da habe ich halt gesagt: Wenn ich nicht gehen kann, höre ich auf mit dem Fussball. Obwohl ich das gar nicht beabsichtigte. Ich habe Blödsinn erzählt, um zu bekommen, was ich mir in den Kopf gesetzt hatte. Wie ein kleines Kind, das trötzelt. Ich habe damals wenig vom Geschäft verstanden. Ich habe einfach gemacht und nichts studiert.»
Vielleicht hätte seine Karriere eine andere Wendung genommen, wenn der Grasshopper-Club nicht nachgegeben hätte. Vielleicht hätte Alain Sutter gelernt, sich unterzuordnen, sich dort, wo er nicht hinpasste, einzufügen. Aber es kam anders. GC gab ihn frei, und Alain Sutter fing von vorne an, bei YB.
Doch kaum war er angekommen, war er schon wieder unglücklich. «Am liebsten», gestand er einer Journalistin, «würde ich mit Raubkatzen arbeiten. Am liebsten wäre ich Dompteur.» Eine Coiffeurlehre könne er sich aber auch gut vorstellen. Eine ungeschickte Äusserung für einen, an dem das Spiel Wochenende für Wochenende vorbeiläuft.
Aber nicht nur das: Der 18-jährige Alain Sutter trifft mit seiner Haltung einen empfindlichen Nerv der Schweiz, die jede Verschwendung verabscheut, am allermeisten aber jene von Talent. Die Vorstellung, dass da einer mit einer Jahrhundertbegabung gesegnet ist und dann derart wurstig damit umgeht – da hört aber der Spass endgültig auf. Da muss eine böse Macht im Spiel sein. Oder, bei einem Nationalspieler: Hass auf das Vaterland.
Viel später, als Alain Sutter beim SC Freiburg allmählich untergeht, schreibt der «Blick», Sutter sei in die Fänge einer Sekte geraten. Endlich einmal eine plausible Erklärung. Und eine, die die Zweifel, die Sutter über dieses Land gebracht hat, abwenden könnte. Aber Sutter tut der Schweiz nicht den Gefallen, die Sekten-Theorie zu bestätigen. Er verbringe einfach viel Zeit zu Hause mit seiner Melanie, sagt er. Sie führten lange Gespräche, es verbinde sie eine tiefe Freundschaft. Das sei alles.
Aber was hindert ihn denn sonst daran, so Fussball zu spielen wie früher? Die Schweiz will ihn ja gerne verstehen, sie bemüht sich wirklich, aber Alain Sutter macht es ihr sehr, sehr schwer.
Michelangelo unter Malergesellen
Zurück zu den Young Boys, 1987: Die Fans waren sauer, Trainer Alexander Mandziara fuchsteufelswild. Eine Coiffeurlehre – spinnt der? Was will dieser Alain Sutter eigentlich?
Nach einer verkorksten Saison und langem Hin und Her wusste er es: zurück nach Zürich. Ein Witz? Kein Witz. Alain Sutter war es ernst. Und diesmal passte es.
Unter GC-Trainer Ottmar Hitzfeld erhält er endlich die Freiheiten, die er benötigt. Sutter bedankt sich, indem er einen Fussball zeigt, wie ihn die Schweiz noch nie gesehen hat. Kreativ, draufgängerisch, anmutig, raffiniert. Alain Sutter ist ein Michelangelo unter Malergesellen. Kaum 21 Jahre alt, führt er GC zum Cupsieg. Ein Jahr später zum Double. Und 1991 abermals zur Meisterschaft, gemeinsam mit der zweiten grossen Hoffnung dieser Zeit, Ciriaco Sforza.
Die Schweiz verschenkt ihr Herz prinzipiell nicht an Poeten. Bei Alain Sutter macht sie eine Ausnahme. Was will sie auch dagegen ankämpfen, sie hat sich ja doch schon längst in ihn verliebt, in seine Jugendlichkeit, sogar in seinen etwas wunderlichen Auftritt. Sie lässt sich ein auf ihren ersten Fussballkünstler. Sie vibriert vor Glück, weil ihr Alain Sutter doch ein Versprechen ist für die Zukunft, weil er die Nationalmannschaft zu altem Glanz führen wird. Die dunklen Gedanken, dass er sich vielleicht doch nicht so sehr verändert hat, dass er sie irgendwann doch enttäuschen wird, schiebt die Schweiz grosszügig beiseite. Aber wer wollte es ihr verdenken?
27 Jahre hatte dieses Land nun nicht mehr an einer Fussball-Weltmeisterschaft teilgenommen. Jede Qualifikation hatte nur noch mehr Schmach über die Schweiz gebracht. Und nun fand sie sich plötzlich auf Rang 3 der FIFA-Weltrangliste wieder. Vor Frankreich, Holland, Spanien, Argentinien, sogar Italien. Hoffnung lag in der Luft, ein Aufbruch, eine grosse Zukunft. Auch dank diesem fabelhaften jungen Linksaussen. Und nicht nur die Nati, die ganze Welt veränderte sich. Die 90er-Jahre hatten gerade erst begonnen, die Mauern waren gefallen, alles schien möglich, auch für die Kleinen. Eine riesige Party, und jeder war eingeladen. Niemand konnte ahnen, dass sich viele Hoffnungsträger schon bald nach einem Hinterausgang umsahen.
Die Selbstauslöschung
Kurt Cobain war so einer. Er gehörte auch zu den Talentierten, die ihre Sache liebten, aber das Business verachteten, ganz ähnlich wie Alain Sutter. Sosehr sich diese Sonderlinge auch anstrengten, dem Geschäft entkamen sie nicht. Schlimmer noch: Mit jeder Verweigerung rutschten sie nur noch tiefer hinab in den Kommerz, jede Haltung und jede Geste zerfloss zum blossen Marketinggag. Es wurde immer schlimmer für die Talentierten, bis ihnen schliesslich als Ausweg nur die eigene Auslöschung blieb. Kurt Cobain griff 1994 zu diesem Mittel. Alain Sutter drei Jahre später: Er wechselte in die USA. Hier musste er nichts mehr, hier war alles ein Dürfen. Alain Sutter, der Provinzstar einer Randsportart.
«Ich brauchte damals diese Distanz», sagt Alain Sutter. Das Gespräch dauert schon fünfzig Minuten. Er ist immer noch so konzentriert wie zu Beginn. Er habe fort gemusst, von den Erwartungen, vom Druck, von den Leuten, die immer zuschauten, wenn er auf dem Platz stand. «Die USA waren perfekt. Keine Sau kannte mich. Ich konnte einfach tschutten, so wie ich es wollte.» Vielleicht habe er die Menschen in der Schweiz enttäuscht. «Aber ich musste meinen Weg gehen.»
Gut möglich, dass er damals auch jenem USA-Gefühl nachgespürt hat, das er drei Jahre zuvor, während der WM 1994 erfahren hatte. «Totale Freiheit», nennt er es. Da war eine Mannschaft, die am Nullpunkt stand zwischen der wackeren Vergangenheit eines Georges Bregy und der luziden Zukunft von Sforza, Chapuisat und so weiter. Und mittendrin dieser Engel. Viele Leute erzählen sich noch heute, dass es immer schien, als sei Alain Sutters Platz der hellste im Stadion gewesen. Als hätte ihn ein besonderer Scheinwerfer verfolgt. Die Amerikaner haben einen Begriff für dieses Phänomen. Sie nennen es: Buzz. Ein Flimmern, ein Leuchten, das von ganz tief innen kommt und sehr, sehr selten ist.
Und ja, er war eine ganz aussergewöhnliche Erscheinung damals. Kraftstrotzend – Alain Sutter hatte in der vorhergehenden Saison beim 1. FC Nürnberg 10 Kilo Muskelmasse zugelegt. Entschlossen – immer wieder diese fabelhaften Sprints über 40, manchmal 50 Meter. Bestechend – seine Pässe, seine Flanken, sein Tor im Spiel gegen die Rumänen, erzielt aus 18 Metern, mit seinem schwachen rechten Fuss und einem gebrochenen Zeh. Dazu die wehenden Haare, die bergseeblauen Augen, das fein geschnittene Gesicht. Es hätte ein Traum sein können, aber es war wahr.
«Ich war keinen Moment nervös. Kein Stress, keine Angst, nichts. Ich habe mich nur gefreut, spielen zu dürfen. Ich bin einfach aufs Feld raus, so wie früher in Bümpliz, als ich mit meinen Kollegen zum Tschuttplatz ging. Es gab für mich nur den Moment und das Spiel. Ich bin vollkommen aufgegangen in dieser Situation: Sämtliches Denken hört auf. Alles löst sich auf, alles fliesst, alles passt zusammen. Das war mein Höhepunkt. Zwei Spiele. Gegen die USA und Rumänien.»
Ist er enttäuscht, dass später nichts Vergleichbares mehr kam? «Nein, überhaupt nicht. Im Gegenteil: Es ist wunderschön, zu wissen, dass ich den grössten Moment meiner Karriere am meisten genossen habe.»
Alain Sutter macht eine Pause. Er weiss, was man jetzt denkt: Alain Sutter, Rücktritt mit 30 Jahren, vier Jahre Strandurlaub in Florida, später Mallorca, heute Kleinfamilienvater im Kleinfamiliendorf Wettingen, dazu ein Kleinberatermandat beim FC Winterthur und Juniorentrainer – seine Vergangenheit ist so gross und seine Zukunft so klein, da wird einer wie er doch nicht glücklich. Das denken alle, die ihn nicht kennen. Alle haben sie in seinen Augen schon geforscht nach Zweifeln, Bitterkeit, Reue. Vergebens. Entweder er ist zu abgebrüht, es preiszugeben. Oder er empfindet wirklich nichts. Neuer Versuch: Gibt es diese Glücksmomente noch in seinem Leben? «Ja», sagt er. Ziemlich überzeugend. Er habe sie immer wieder. Mal, wenn er den Abwasch erledige, mal, wenn er mit seinem Sohn spiele oder einen neuen Boden verlege. «Wichtig ist, dass du präsent bist. Dass du Freude daran hast, was du tust. Dass du mit Leib und Seele dabei bist.»
Stop it Sutter
Nach der Weltmeisterschaft wechselte er zu Bayern München. Der Ausgang ist bekannt. Dann zum SC Freiburg. Wieder war er unglücklich. Und nun kam auch noch die Sache mit dem Transparent hinzu. Beim Einlaufen zum Spiel gegen die Schweden in Göteborg 1995 protestierte die Schweizer Nati gegen Jacques Chiracs Atomtests im Mururoa-Atoll. Das Bild ging um die Welt: ein Affront. Der Rädelsführer war schnell ausgemacht. Alain Sutter hatte sich früher schon gegen Tierversuche gewehrt, für die Fussballergewerkschaft ProFoot eingesetzt, mit den Mächtigen im Fussballgeschäft angelegt. Aber das ging jetzt wirklich zu weit. Trainer Artur Jorge schmiss ihn raus. Nicht nur wegen des Transparents, es kamen einige Dinge zusammen. Jorge hatte keine Geduld für einen wie ihn. Gerüchte kursierten. Sutter untergrabe Jorges Position, Sutter habe zweifelhafte Einflüsterer, Sutter und die Sekte, Sutter wisse nicht mehr, wo er hingehört. Eineinhalb Jahre nach seinen Auftritten an der WM 1994 war Alain Sutter dem Fussballverband suspekt geworden.
Und nicht nur ihm. Die ganze Schweiz hatte das sonderbare Gefühl, dass diese Liebe kein gutes Ende nehmen würde. In Göteborg hatte er sie ja wieder einmal vor den Kopf gestossen. Sogar blossgestellt vor der Weltöffentlichkeit. Sicher, er war es nicht alleine, und in der Sache gab man ihm ja sogar recht. Aber im Stil? Sprühdosen, Transparente, Slogans gehören einfach nicht zum politischen Werkzeugkasten der neutralen, diplomatischen Schweiz. Ganz abgesehen davon, dass es diesem Land ohnehin langsam unheimlich wurde. Der Needle-Park in Zürich, die Sache mit den nachrichtenlosen Konten, die nun doch hartnäckiger schien als angenommen. Zweifel kamen auf, ob die Neunziger ihr Versprechen, dass sie es gut meinten mit der Schweiz, wirklich halten würden. Die Schweiz entschied sich zum Wegducken, zum Stillhalten, bis bessere Zeiten kommen. Einen Aufrührer wie Alain Sutter konnte man da nun wirklich nicht gebrauchen.
Wohl auch deswegen zog er so weit weg, wie nur irgend möglich, nach Dallas, Texas, wo man zwar nicht auf ihn gewartet hatte, aber das musste ja auch kein Nachteil sein. Vielleicht hätte er sogar nur hier glücklich werden können. Doch es ging wieder schief. Nur: Diesmal konnte man ihm wirklich keine Schuld geben. Oder doch? Ein anderer Spieler hätte vielleicht trotz dieses Knorpel-abrisses an der Hüfte weitergespielt. Aber Alain Sutter war nicht aus diesem Holz gemacht.
Immer noch Schmerzen
«Ich hatte damals eine schwierige Entscheidung zu treffen», sagt er. Es gab zwei Möglichkeiten: «Entweder weiterspielen, meinen Vierjahresvertrag bei Dallas Burn erfüllen und mir mit 40 Jahren ein künstliches Hüftgelenk reinmachen lassen. Oder aufhören und die Verletzung vollständig auskurieren.» Alain Sutter entschied sich für Letzteres. «Ich hatte noch so viele Jahre meines Lebens vor mir, die wollte ich geniessen. Ich wollte auch noch Kinder haben und mit ihnen rausgehen und spielen können ohne Schmerzen. Heute bin ich gottenfroh, dass ich mich damals so entschieden habe.»
Schmerzen hatte er trotzdem. Hat er noch heute. Erst war es die Hüfte, jetzt ist es das Muskelsystem. Schuld ist das einseitige Training, es hat einzelne Muskeln verkürzt. Alain Sutters Körper ist auch zwölf Jahre nach seinem letzten Spiel noch dabei, sich neu einzujustieren. «Die Hebelwirkungen sind falsch eingestellt. Aber die Schmerzen nehmen ab», sagt er. Und dass er froh sei darüber.
Der andere Ausstieg, der psychische, ist ihm leichter gefallen. Er hat die Emotionen nicht mehr gebraucht. Andere Ex-Spieler fallen in tiefe Löcher, wenden sich dem Alkohol zu, den Drogen. Alain Sutter denkt nach. «Es ist eigentlich unmöglich, dass du im Fussball auf dem Boden bleibst», sagt er. «Das Publikum, das Tempo, die Emotionen – das alles ist wie eine äussere Substanz, die du zu dir nimmst.» Manche ersetzten sie später durch andere, ungesunde Dinge. «Ich nicht, darauf bin ich stolz. Ich bin immer meinem eigenen Weg gefolgt. Das zahlt sich jetzt aus.»
Die Gladiatoren sollen unterhalten
Trotzdem die Frage: Hätte seine Karriere nicht viel erfreulicher verlaufen können, wenn er ein bisschen mehr Kompromisse eingegangen wäre? Zum Beispiel damals, am Oktoberfest in München.
So genau erinnert er sich dieser Sache nicht mehr. Vielleicht sei es so gewesen, dass er sich weigerte, den Humpen in die Hand zu nehmen, sagt er. «Denkbar ist es auf jeden Fall. Aber, was hätte es denn gebracht?»
Er hätte zeigen können, dass er sich mit seinem Verein und seiner Stadt identifiziert.
Alain Sutter wird unruhig. Man solle also mal annehmen, er hätte damals dieses Gstältli getragen, er hätte humpenweise Bier runtergeschüttet, wäre anschliessend die Treppe hinuntergestürzt und kotzen gegangen, wie alle anderen. Er hätte sich also wirklich stark mit diesem Verein und der Stadt identifiziert, am nächsten Tag auf dem Platz aber keinen einzigen Ball gesehen. Zack – Sutter zerschneidet die Luft mit seiner Handkante. «Da interessiert es die Leute doch nicht mehr, wie sehr ich diese Stadt liebe. Da werde ich einfach ausgepfiffen. Wenn ich hingegen das ganze Theater nicht mitmache, mein Wasser trinke und jedes Wochenende die entscheidenden drei Tore schiesse, dann liegen mir alle zu Füssen. Denn das ist es, was die Leute wollen: Leistung. Die Gladiatoren sollen sie gut unterhalten, sollen erfolgreich sein, dann werden sie geliebt. Alles andere interessiert die Leute nicht. So ist es.»
Er hat schon recht. Nur in einem Punkt täuscht er sich. Die Schweiz war ihm nie böse, wenn er seine Leistungen nicht brachte. Sie wollte immer nur, dass Alain Sutter ihre Liebe erwidert. Aber sie wartet schon lange nicht mehr. Sie schimpft nur gerne ein bisschen, wenn er am Fernsehen erscheint. Verschmähte Damen machen das so.