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Fehlentscheide

fehlentscheid

Nicht gegebene Elfmeter, vermeintliche Offside-Tore und übersehene Tätlichkeiten. ZWÖLF hat ­zusammen mit Experte Urs Meier alle Schiedsrichter-­Fehlentscheide der Super-League-Saison 2014/15 ­analysiert – und kommt zu erstaunlichen Resultaten.

Eine Studie von David Mugglin und Benedikt Widmer
Illustrationen: Jeana Hadley / Infografiken: Sascha Török

«Der Schiedsrichter hat immer recht – alles Unrecht gleicht sich im Verlauf einer Saison aus», soll Franz Beckenbauer einst gesagt haben. Diese Weisheit schlich sich mit der Zeit ins Standardvokabular eines jeden Fussballers. Meist wird sie von den Trainern des Siegers verwendet, die von Schiedsrichter-Fehlentscheidungen profitiert haben. Sie ist eine willkommene Floskel, um dem Gegner Mut zu machen und das eigene schlechte Gewissen zu kaschieren. Den Verlierern dient sie als letzte Hoffnung und als subtiles Druckmittel gegen den Schiedsrichter, damit der beim nächsten Spiel auch mal für das eigene Team pfeift.

Doch stimmt die alte Weisheit wirklich? Profitieren alle Teams während einer Saison gleichermassen von den Fehlern der Schiris? Oder gibt es Teams, die von den Unparteiischen – selbstverständlich unbewusst – bevorteilt werden? ZWÖLF wollte es genau wissen und hat zusammen mit dem Schiedsrichter-Experten Urs Meier die Probe aufs Exempel gemacht. Anhand der SRF-Fernsehbilder haben wir sämtliche relevanten Szenen der abgelaufenen Super-League-Saison einer kritischen Betrachtung unterzogen. Wo liess sich der Schiedsrichter von einer Schwalbe im Strafraum täuschen? Wo übersah er ein Offside-Tor? Wo zeigte er die Rote Karte, obwohl Gelb angebracht gewesen wäre? Das Fazit ist erstaunlich: Das beckenbauersche Axiom der aus­gleichenden Gerechtigkeit hält einer fundierten Analyse nicht stand. Die Fehlentscheide der Schiedsrichter glichen sich in der Super-League-­Saison 2014/15 keineswegs aus.

 

SR_nachteil

Die Kleinen als ­Lieblingskinder
Thun und Vaduz kamen bei den Schiedsrichtern am besten weg. Vaduz wurde in der gesamten Saison in wichtigen Situationen nur einmal benachteiligt (Gelb-Rot am 29. Spieltag gegen Neumayr im Spiel gegen St. Gallen). Thun wurde in relevanten Szenen 15 Mal bevorzugt – Ligarekord. Für Thun-Sportchef Andres Gerber kommt das nicht überraschend: «Wir haben eine sehr faire Mannschaft. Es ist gut, wenn sich das auszahlt.» Gerber weist darauf hin, dass Thun bisher nicht in jeder Saison das Glück des Tüchtigen hatte. In der Spielzeit 2013/14 sei Thun noch kein einziger Penalty zugesprochen worden. «Wir haben uns das gute Standing bei den Schiedsrichtern also richtig­gehend erarbeitet.» Schiedsrichter-Chef Carlo Bertolini: «Vielleicht kann eine Mannschaft, die wenig reklamiert und wenig Druck auf den Referee ausübt, tatsächlich den Schiedsrichter unbewusst beeinflussen. Wer weiss.»

YB am meisten ­benachteiligt
Die Young Boys hatten während der gesamten Spielzeit klar am meisten unter den ­Schiedsrichter-Fehlentscheidungen zu leiden. Insgesamt wurden die Berner in 14 spielentscheidenden Szenen benach­teiligt und nur bei 6 Entscheidungen bevorteilt. Vor allem bei den engen Direkt­duellen gegen Meister Basel konnten die Berner nicht auf die Hilfe der Schiedsrichter zählen. 4 Mal wurde YB benachteiligt, Basel nur 2 Mal. YB-Sportchef Fredy Bickel nimmt die ­Studie interessiert zur Kenntnis. «Ich erwarte in erster Linie eine objektive Spielleitung. Die habe ich in dieser Saison tatsächlich hin und wieder vermisst.» Hätte YB ohne Schiri-Fehler gar den Titel geholt? Bickel fair: «Die Rangliste würde möglicherweise ein wenig anders aussehen, an der Vergabe des Meister­titels hätte sich aber nichts geändert. Basel war die stärkste Mannschaft.»

Mythos Heim­schiedsrichter
Was wurde nicht alles schon geschrieben über Schiedsrichter, die sich vom heissblüti­gen Heimpublikum einschüchtern lassen. Die ZWÖLF-Analyse ergibt ein ganz anderes Bild: In der Super-League-Saison 2014/15 gab es keine sogenannten Heimschiris. Nur 42 Mal wurden die Heimteams bevorteilt, hingegen 51 Mal die Auswärtsteams. «Das Resultat lässt mich gut schlafen», sagt Schiedsrichter-Chef Carlo Bertolini. Interessant: Serienmeister Basel mit seinen vielen Zuschauern genoss nicht den grössten Heimvorteil. 5 Mal wurden die Bebbi zu Hause zwar bevorzugt, aber auch 3 Mal benachteiligt. Das bedeutet gemeinsam mit Thun Rang 2 in der Liga. FCB-Sportchef Heitz lapidar: «Das überrascht mich nicht. Eine Legende wird nämlich nicht wahrer, wenn sie permanent bemüht wird.»

heimvorteilHeimfluch im Letzigrund
Im Zürcher Letzigrund wurde am meisten gegen das Heimteam gepfiffen. Der FCZ (7 Mal benachteiligt) und GC (9 Mal benachteiligt) profitierten im eigenen Stadion am wenigsten von den Schiedsrichtern. Am meisten bevorzugt wurde zu Hause St. Gallen, gefolgt von Thun und Basel. Schiedsrichter-Chef Bertolini ist überrascht: «Im alten Espenmoos war es eigentlich schwieriger zu pfeifen als heute in der AFG-Arena. Die Zuschauer waren sehr nahe am Geschehen. In Zürich ist dies nicht der Fall, und das ist genau das Problem im Letzigrund.»

 

wahretabelle
So wurde die «wahre Tabelle» berechnet: • Als Quelle dienten die SRF-Matchzusammenfassungen. • 75 Prozent der Elfmeter in der Super League werden verwandelt. Deshalb wird ein zu Unrecht nicht gegebener Elfmeter hier als Tor gewertet. Bei einem fälschlichen Elfmeterpfiff wird hingegen kein Gegentor verrechnet. Dasselbe Verfahren wird bei einem fehlbaren Abseitsentscheid und einem nicht ­geahndeten Stürmerfoul unmittelbar vor dem Treffer angewandt. • Eine Rote Karte vor der Halbzeitpause hat in der «wahren Tabelle» für die fehlbare Mannschaft zwei Gegentore, ein Platzverweis nach der Pause bis zur 70. Spielminute ein Gegentor zur Folge.

Natürlich begeben wir uns mit diesem Versuch aufs Glatteis. Kein Mensch weiss, wie sich ein Spiel ohne den Fehlpfiff eines Schiedsrichters entwickelt hätte – jedes Spiel hat seine ganz eigenen Gesetze.

Trotzdem haben wir uns an die Spielerei gewagt. Interessant waren natürlich Fehlentscheide in Partien, die knapp endeten. Die Resultate sind verblüffend. Klar, Basel braucht keine Schiris, um Meister zu werden. Aber der Meisterkampf wäre ohne die Fehlentscheide viel spannender geworden. Auffällig auch: St. Gallen hätte es locker in die Europa League geschafft. Thun hingegen wäre ohne die Schiri-Fehler sehr viel tiefer klassiert. Abgestiegen wäre nicht Aarau, sondern Vaduz. Und dies sogar sehr eindeutig.

Vaduz-Trainer Giorgio Contini nimmt die «wahre Tabelle» gelassen hin: «Diese Spielereien sind genau das Interessante am Fussball. Alle machen Fehler, jeder kann mitreden.» Contini gibt aber zu bedenken, dass bei den SRF-Zusammenfassungen nicht alle wichtigen Szenen einer Partie Platz finden. Als Beispiel führt er an: «In der zweiten Runde gegen den FCZ zum Beispiel wurde ein Tor von Nico Abegglen beim Stand von 1:0 für uns fälschlicherweise wegen Abseits aberkannt. Das hat SRF nicht gezeigt und ist somit nicht in der Statistik aufgeführt.»

Ex-Aarau-Trainer Raimondo Ponte will gegenüber ZWÖLF die Schuld für den Abstieg nicht bei den Schiedsrichtern suchen. «Der FC Aarau hätte Vaduz nur einmal mehr schlagen müssen, dann wären wir nicht abgestiegen. Spielerei hin oder her.»